Neuerscheinung | 21.11.2010

Alles Gute kommt... nicht unbedingt von oben

 

Himmelfahrt und Spielsucht

 Giordano Bruno vor der Inquisitionskommision (historisierendes Relief von Ettore Ferrari); am 17. Februar 1600 wurde er auf dem Scheiterhaufen in Rom verbrannt, weil den Machthabern seine Weltanschauung nicht passte.

Die meisten ETs entwickelten vielleicht niemals so naive Glaubenssysteme. Oder sie haben sie seit langem als psychische Projektionen, als Wunschdenken oder subtile Manipulation durchschaut und aufgegeben. Vor allem, wenn und weil sie einen wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt durchlaufen haben, Säkularisierung und Aufklärung. Doch das schließt die Möglichkeit nicht aus, dass es zumindest einige ultrareligiöse Aliens dort draußen gibt. Und dass einige davon bereits zur Himmelfahrt aufgebrochen sind.

So ist Geoffrey Miller davon überzeugt, dass sich viele hochentwickelte Zivilisationen selbst im Weg stehen. Gefangen in Stagnation oder Dekadenz, sei es in spiritueller Selbstversenkung oder in einer unstillbaren Sucht nach Unterhaltung, haben sie kein Interesse mehr an Exploration und Expansion. Und das mag auch an ihrem biologischen Erbe liegen. Die Evolution kann ja neue Umwelten nicht vorwegnehmen. Auch die modernen Gesellschaften mit ihren Hochtechnologien und Amüsiermitteln vom Computerspiel bis zum Hirnstimulator gehören dazu.

Aber die Evolution hat uns – und analog wohl auch viele Aliens – mit Veranlagungen ausgestattet, die es den Gehirnen ermöglichen, trotzdem nach biologischer Fitness zu trachten. Doch die modernen Lebensmöglichkeiten tricksen diese Veranlagungen gleichsam aus. Falsche Ernährung ist ein besonders gutes Beispiel: Fett und Zucker sind wertvolle Ressourcen, aber im Übermaß und bei mangelnder Bewegung gesundheitsgefährdend.

"Eine bestimmte Epoche eines Fitness vortäuschenden Narzissmuss ist unvermeidbar, wenn intelligentes Leben sich entwickelt", ist Miller daher überzeugt. "Das ist die Große Versuchung für jede technologische Spezies." Und er glaubt, dass viele Zivilisationen dieser Versuchung erliegen und ihre Zukunft geradezu verspielen. "Die meisten klugen Alien-Arten sterben wahrscheinlich graduell aus. Sie verbrauchen mehr Zeit und Ressourcen für ihre Vergnügungen als für ihre Kinder. Und wenn es 'Game Over' heißt, dann sind sie aus dem Spiel des Lebens, weil sie sich nicht genügend reproduziert haben."

 

Säkulare Sackgasse?

Die Große Versuchung Technologie-getriebener Dekadenz und einer Rundumversorgung, womöglich in virtuellen Spielwiesen, könnte also zum Flaschenhals der sozialen Evolution führen – auch wenn die Überbevölkerung mit ihren ökologischen und sozialen Konflikten bis hin zum globalen Overkill wohl meistens die viel größere Gefahr darstellt. Wenn diese Gefahr aber gebannt ist, meint Miller, stellen sich die Zivilisationen wohl oft selbst ein Bein stellen und versäumen den Absprung ins All, falls sie sich zu sehr auf ihren Errungenschaften ausruhen.

Und hier greift die Rolle der Religionen. "Fundamentalistische christliche und muslimische Anti-Konsum-Aktivitäten haben genau verstanden, was die Große Versuchung ist, und wie sie sich vermeiden lässt", betont Miller. "Die Fundamentalisten isolieren sich von den kreativen Traumwelten und allumfassenden Ökonomien." Im Extremfall könnten sie einfach abwarten, bis die anderen aussterben oder zahlenmäßig so geschwächt sind, dass sie ihre Macht verlieren. Daher vermutet der Evolutionspsychologe, dass diejenigen ET-Zivilisationen, die expandieren, wahrscheinlich religiöse Hardliner sind.

Hinzu kommt: Religiosität muss zwar keine kosmische Universalie sein, aber es gibt Argumente, dass sie eine evolutionäre Anpassung oder ein Nebenprodukt der kognitiven Entwicklung soziallebender Organismen mit Ich- und Todesbewusstsein ist. Und auch wenn die Inhalten der Religionen fiktiv oder falsch sind, haben sie Auswirkungen. Sie können beispielsweise Kooperation beziehungsweise Klüngelei fördern und festigen. Und wenn die reproduktive Überzahl das ist, was in der Evolution zählt, dann geht sie meistens auf Kosten anderer derselben Art und anderer Arten. Auch auf der Erde haben fundamentalistische Religiöse statistisch gesehen mehr Kinder als moderate Religiöse und säkulare.