Moralphilosophie | 26.08.2010
Natur und Moral
Moral ist nichts Abstraktes. Sie wird von den jeweils konkreten Lebensumständen der Menschen beeinflusst, wenn nicht bestimmt. Wer zu verhungern droht, wird das Verbot zu stehlen viel eher ignorieren als jemand, der im Überfluss lebt (von Kleptomanen einmal abgesehen). Und den Straßenkindern in den Slums von Mexico City, Bogotá und Kairo wird nicht leicht beizubringen sein, dass alles seine Ordnung habe und sie sich daher entsprechend benehmen sollten.
Die menschliche Natur ist nicht zu beschwindeln. Der Mensch kann nur so viel Moral aushalten, wie seine Natur ihm erlaubt. Wer ein idealistisches Bild vom Menschen hegt und darauf moralische Imperative gründet, muss damit früher oder später Schiffbruch erleiden. Angenommen, jemand käme auf die Idee, dass der Mensch nur zwei Stunden pro Tag schlafen dürfe. So absurd diese Annahme auf den ersten Blick ausschaut – sie wäre unter bestimmten Voraussetzungen "begründbar": Statt ein Drittel unseres Lebens zu verschlafen sollen wir mehr arbeiten, mehr Zeit unseren Mitmenschen widmen, Gott dienen und so weiter. Es würden sich sogar einprägsame Slogans für diese Forderung finden: "Wer wenig schläft, hat mehr vom Leben"; "Langschläfer leben kürzer"; "Schlaf lässt ihre Haut altern" . . . (sogar das eine oder andere medizinische Forschungsergebnis ließe sich wahrscheinlich in diese Richtung manipulieren). Doch selbst die ergebensten "Moraltölpel" wären nicht imstande, dieses Gebot zu befolgen, weil es einfach nicht lebbar ist. (Von Hitler sagt man gelegentlich, dass er nur zwei Stunden am Tag geschlafen habe. Aber das hatte bekanntlich Auswirkungen. Einem großen Teil der Menschheit wäre unsägliches Leid erspart geblieben, wenn er sein ganzes Leben verschlafen hätte.)