Moralphilosophie | 26.08.2010
Die Schattenseiten
In seiner Streitschrift "Zur Genealogie der Moral" überlegte Friedrich Nietzsche: "Wenn im ‚Guten’ auch . . . eine Gefahr [läge], eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? . . . So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre." In der Tat sind die Schattenseiten der Moral nicht zu übersehen. In ihrem Namen wurden Menschen verfolgt, gequält, gefoltert, getötet. Dabei brauchen wir nicht ins Mittealter zurückzugehen, die jüngste Zeit liefert genügend – erschreckende – Beispiele dafür. Wer sich mit dem entsprechenden Machtinstrumentarium auszustatten vermag, kann festlegen, was moralisch richtig oder falsch ist und ein Urteil über all jene fällen, die "unmoralisch" handeln. Dass ein solches Urteil nach wie vor höchst grausam ausfallen kann, braucht nicht eigens belegt zu werden. Wegen unerlaubter Sexualkontakte gesteinigte Frauen oder Personen, die wegen illegalen Drogenbesitzes zum Tode verurteilt werden, sprechen dazu ihre eigene Sprache.
Unsere Zivilisation ist angetreten, das Böse in der Welt zu bekämpfen, doch bedienen sich ihre Hüter dabei derselben Mittel wie die, die das Gute missachten. Aber "Gut" und "Böse" sind eben relativ, manchmal wirklich nur eine Sache der Konvention. Ein Beispiel dafür ist die internationale Drogenbekämpfung, wo man anscheinend längst jedes (moralische) Augenmaß verloren hat. Im sogenannten Drogenkrieg wurden 2009 allein in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez 2500 Menschen getötet. (Zum Vergleich: Im selben Zeitraum waren im afghanischen Bürgerkrieg "nur" 2300 Menschenopfer zu beklagen.)
In Anbetracht solcher Umstände sollte es schon erlaubt sein, darüber nachzudenken, ob eine Legalisierung des Drogengebrauchs in der Gesamtbilanz nicht ein besseres Ergebnis liefern würde als dessen Kriminalisierung. Von der amerikanischen Prohibition zwischen 1919 und 1933 könnte man ja etwas gelernt haben. Bemerkenswerterweise werden Drogengebrauch und Drogenhandel in jenen Ländern, wo sie nachweislich einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellen, besonders drakonisch geahndet.