Moralphilosophie | 26.08.2010

Zu viel des Guten

 

Moral und Doppelmoral

Moral entpuppt sich nur zu oft als Doppelmoral, eine gefährliche noch dazu. Dabei brauchen wir gar nicht an die Akteure der Weltpolitik zu denken, die etwa unter Berufung auf die Staatsräson oder im Dienste der Demokratisierung der Welt auf genau solche Mittel zurückgreifen, die unter anderen Vorzeichen als unmoralisch gelten. Genauso gefährlich – wenn nicht in mancher Hinsicht noch gefährlicher – sind die Heerscharen von Moralisten, selbsternannten kleinen Moralhütern, die bereitwilligst und mit vorauseilendem Gehorsam den Herrschenden ihre Dienste anbieten und sich dabei ihrer eigenen Erbärmlichkeit nicht bewusst zu werden brauchen, weil sie sich in moralischer Sicherheit wähnen. Sie eignen sich hervorragend als Denunzianten, ihrer Treue und Ergebenheit konnten sich politische Machthaber zu allen Zeiten vergewissern.

Solche Leute sind natürlich auch im ideologisch weniger gefährlichen Umfeld aktiv. Wir kennen sie doch. Sie stellen sich taub, wenn der Nachbar regelmäßig seine Tochter verprügelt, lassen aber nicht durchgehen, dass im Treppenhaus ein Hund einmal die Kontrolle über seine Stoffwechselvorgänge verliert.

Etwas mehr moralische Gelassenheit ist angezeigt. Schopenhauer meinte: "Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen wie im Tiere ist der Egoismus, d. h. der Drang zum Dasein und zum Wohlsein." Die moderne Evolutionstheorie gibt ihm recht. Vor einer Überdosis Moral sei also ausdrücklich gewarnt. Und gewarnt sei – ebenso ausdrücklich – vor all jenen, die uns unentwegt absolute Werte predigen, welche sie meinen, von einer "höheren Instanz" empfangen zu haben und nun allen aufoktroyieren wollen.

Verabschiedet man sich von der Idee absoluter Werte, dann kann man Menschen mit anderen Moralvorstellungen im Allgemeinen auch entspannter begegnen. Der österreichische, in Deutschland wirkende Philosoph Bernulf Kanitscheider bringt es auf den Punkt: "Wenn Ethik nicht universell ist, nicht objektiv und schon gar nicht objektiv begründbar . . ., dann verliert der Dissens auch wesentlich an Aggressionspotential. Bei moralischer Entrüstung ist man dann auch nicht gehalten, zur Flinte zu greifen, sondern einen Kognak zu nehmen."Wie viel Moral verträgt der Mensch

Ich füge hinzu: Das ist für alle Beteiligten auch die wesentlich gesündere Lösung, und am besten ist es, wenn sie den Kognak gemeinsam einnehmen. (Falls sie alkoholische Getränke verschmähen, können sie sich ja auch an pasteurisierter Milch gütlich tun.)

Franz Wuketits ist Evolutionsbiologe, Beirat der Giordano Bruno Stiftung und er gehört unserem „Darwin-Komitee“ an. Sein neues Buch „Wie viel Moral verträgt der Mensch“ ist diese Woche erschienen.

ErstveröffentlichungWiener Zeitung