Moralphilosophie | 26.08.2010
Lebensfremde Normen
Wem dieses Beispiel als zu weit hergeholt und unrealistisch erscheint, sollte sich vergegenwärtigen, dass die rigorose Sexualmoral der traditionellen katholischen Kirche und des fundamentalistischen Islam ja auf dasselbe hinausläuft: Sie ist nicht lebbar. Vom Menschen – dem neben dem Zwergschimpansen oder Bonobo wohl "sexuellsten" aller Säugetiere – Enthaltsamkeit zu fordern, spricht für naturkundliche Blindheit. Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich auch an dieser Stelle betonen, dass die Natur moralisch völlig neutral ist und wir daher Normen und Werte aus ihr nicht ableiten können. Jeder Versuch, Normen und Werte ohne Berücksichtigung unserer Natur zu begründen, ist jedoch zum Scheitern verurteilt.
Wir sind von Natur aus Kleingruppenwesen, 95 Prozent unserer Evolutionsgeschichte, vier bis fünf Jahrmillionen, lebten wir als Jäger und Sammler in überschaubaren Gruppen von vielleicht dreißig oder vierzig Individuen. In diesem langen Zeitraum haben sich die Grundstrukturen unseres sozialen (einschließlich moralischen) Verhaltens entwickelt und stabilisiert.
Auch in den heutigen Massengesellschaften sind wir Kleingruppenwesen geblieben: Wir bilden kleine Sympathiegruppen, Freundeskreise, Clubs und so weiter. Obendrein sind wir natürlich die geborenen Nepotisten, veranlagt also zur Bevorzugung von Verwandten und zur "Freunderlwirtschaft" (worüber man auch bei der Korruptionsbekämpfung nachdenken sollte). Dass das Leben in anonymen Massengesellschaften unserer Spezies nicht angemessen sei, lässt sich inzwischen auch aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht durchaus plausibel machen.
Wer der "naturalistischen" Perspektive Einseitigkeit unterstellt, sollte sich den Umstand vergegenwärtigen, dass gerade aus dieser Perspektive der Mensch keineswegs als der geborene Totschläger erscheint. Der Mensch ist von Natur aus durchaus dazu disponiert, mit anderen Artgenossen zu kooperieren, ihnen Sympathie entgegenzubringen, Mitleid mit ihnen zu empfinden und ihnen zu helfen. Dazu bedarf er keiner abstrakten Moral. Friedrich Schiller schrieb: "Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin." Seien wir doch froh, dass wir mit dieser Neigung ausgestattet sind! Wir sind Egoisten, aber gerade der "gesunde Egoist" weiß, dass er die Hilfe anderer benötigt und verhält sich seinerseits auch kooperativ.
Es ist das Prinzip der Gegenseitigkeit, der reziproke Altruismus, der sich in den Jahrmillionen unserer (sozialen) Evolution bewährt hat und den es zu fördern gilt. Unter den Rahmenbedingungen einer Zivilisation, die "Geiz ist geil" propagieren lässt, den Einzelnen aber gleichzeitig mit Geboten und Verboten zu ersticken droht, wird dieses Prinzip in sein Gegenteil pervertiert.