Moralphilosophie | 26.08.2010
Viele unserer Lebensbereiche sind von moralischen Forderungen durchsetzt. Gleichzeitig werden solche Forderungen häufig missachtet. Haben wir uns mit der Moral vielleicht zu viel vorgenommen?
Von Franz M. Wuketits
Es hat den Anschein, dass heute überall Unmoral herrscht. Wer einen Sittenverfall diagnostizieren will, wird in Politik und Wirtschaft, im Sport, im beruflichen und privaten Alltag und in neuerer Zeit sogar in der katholischen Kirche (einer Hüterin der Moral) mühelos die entsprechenden Symptome aufspüren können. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass in praktisch allen Zeitaltern ein Werteverlust beklagt wurde. Mahnende, auf mangelnde Moral hinweisende Zeigefinger begleiten unsere Geschichte seit der Antike. Aber es ist wohl nur natürlich, dass man auf das eigene Zeitalter einen besonders kritischen Blick wirft.
Von Werten redet man derzeit (wieder) sehr gern, doch beschwört dieses Gerede vielfach nur einen inflationären Gebrauch des Wertebegriffs herauf (siehe dazu auch "Wiener Zeitung" vom 10./11. April 2010) . Da versucht man zum Beispiel, die Europäische Union als "Wertegemeinschaft" vorzustellen, aber bisher konnte niemand schlüssig darlegen, welche Werte denn die 500 Millionen Menschen im politisch und wirtschaftlich konstruierten Raum dieser Union miteinander tatsächlich verbinden oder verbinden sollen. Und "von oben" diktierte Werte sind mit Argwohn zu betrachten. So gut wie jedem von uns ist ohnehin vieles etwas wert – sein Leben, seine Familie, sein Garten, seine Katze, sein Motorrad . . . Warum belästigt man uns also zusätzlich noch mit vermeintlich "höheren Werten", die letztlich nur jenen dienen, die damit ihre eigenen Moralvorstellungen durchsetzen und mithin ihre Machtansprüche legitimieren wollen?