Rezension | 12.01.2009

Die unerschöpfte Theorie


Franz M. Wuketits: Die unerschöpfliche Theorie oder was die Evolutionstheorie so alles erklärt

Franz M. Wuketits behandelt nun die Frage, was die Evolutionstheorie alles erklären kann. Dazu gehört auch eine Einführung in die Theorie, ihre Weiterentwicklung seit Darwin und schließlich die Soziobiologie, auf die etwas umfangreicher eingegangen wird.

Wuketits betont, dass die Kultur nicht genetisch determiniert ist, sondern vielmehr eine genetische Disposition für Kultur die Entwicklung verschiedener Kulturen ermöglicht. Ihre konkreten Ausprägungen hängen auch von ökologischen, ideologischen und wirtschaftlichen Faktoren ab. Trotz allem haben Moral und Kultur biologische Grundlagen. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften wäre also die Erklärung und Erforschung der proximaten Ursachen unseres Verhaltens, während sich die Soziobiologie mit den ultimaten Ursachen befasst.

Der Beitrag schließt etwas pessimistisch mit der Befürchtung, dass sich das säkulare Welt- und Menschenbild der Evolutionstheorie nicht gegen die illusionäre Konkurrenz durchsetzen wird. Zumindest hat Wuketits mit seinem ausgewogenen Beitrag zum Gegenteil beigetragen.


Christoph Antweiler: Evolutionstheorien in den Sozial- und Kulturwissenschaften

Christoph Antweiler bemüht sich im Folgenden um eine Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Religion, sowie zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften. Dazu gehört die Aufklärung über Fehleinschätzungen und Halbwahrheiten in Bezug auf biologische Ansätze im Bereich des Menschen, sowie die Vorgeschichte der heutigen Soziobiologie. Es folgt eine bemerkenswerte Untersuchung der Analogien zwischen Bioevolution und Kulturevolution. Ein wohlinformierter und -informierender Beitrag.


Hans-Walter Leonhard: Recht und Grenzen evolutionsbiologischer Betrachtungen im Bereich des Humanen

Aus der Sicht der Geisteswissenschaften fragt Hans-Walter Leonhard nach den Grenzen soziobiologischer Betrachtungen. Er erklärt, warum biologische Erklärungen des Menschen bei heutigen Geisteswissenschaftlern oftmals unerwünscht sind. Es gelingt ihm, aufzuzeigen, wo manche Naturwissenschaftler die Reichweite biologischer Erklärungen für menschliches Verhalten überschätzen könnten. Zum Beispiel weist er mit Stephen Jay Gould darauf hin, dass nicht „jedes vorhandene Merkmal als eine von der Selektion belohnte Anpassungsleistung“ verstanden werden kann. Wie Wuketits benutzt auch Leonhard die Unterscheidung zwischen ultimaten und proximaten Ursachen. Allerdings wirft er einigen Soziobiologen vor, eben diese Unterscheidung nicht konsequent genug zu treffen, wofür er auch überzeugende Beispiele vorlegen kann.

Das letzte Beispiel ist allerdings nicht sehr überzeugend: Leonhard hält es für unplausibel, dass der Ehefrauenmord unter bestimmten Bedigungen zur Verbreitung der Gene von Männern beitragen kann. Dabei spricht er parodistisch von einem „Ehefraumörder-Gen“, dessen Existenz natürlich niemand behauptet und die auch nicht notwendig ist für die biologischen Vorteile des Ehefrauenmords. Wir können auch in einen Bus einsteigen und trotzdem gibt es kein „Buseinsteig-Gen“. Er fragt nun nach der empirischen Grundlage der Vorteile eines solchen Mords. Im von Leonhard zitierten Interview werden sie nicht genannt, aber es gibt sehr wohl Gesellschaften, die ein solches Verhalten fördern. In Saudi-Arabien zum Beispiel steht auf Ehebruch die Todesstrafe, zudem darf sich die Frau bei weitem nicht so einfach wie der Mann vom Partner trennen. Der biologische Nutzen ist klar: Die Gene des fremden Mannes können sich nicht verbreiten, die Frau ist zur Verbreitung der Gene des Ehemanns untauglich geworden. (All das heißt natürlich nicht, dass Ehefrauenmord berechtigt wäre!).


Vanessa Lux: Biologismen in Soziobiologie und Evolutionärer Psychologie

Schließlich kommt die Psychologin Vanessa Lux zu Wort und geht mit einiger Schärfe auf „Biologismen in Soziobiologie und Evolutionärer Psychologie“ ein, wobei sie offenbar die gesamten Fachgebiete für Biologismen hält. Zwar räumt sie ein, dass die Kulturfähigkeit des Menschen evolutionär entstanden ist, nur sollen Kultur und Moral jetzt praktisch gar nichts mehr mit der Biologie zu tun haben. Sie erwähnt auch Stephen Jay Goulds „adaptive story-telling“. Gould hielt die Soziobiologie für Cocktailpartyspekulation und hat seine an sich berechtigte Kritik damit ins Groteske überzogen.

Zum Beispiel wirft Lux Soziobiologen vor, mit ihrer Einschätzung, dass Vergewaltigung eine Fortpflanzungsstrategie sein könnte, würden sie patriarchale Geschlechterverhältnisse „implizit legitimieren“ (S. 169). Natürlich haben die Autoren des ihrerseits kritisierten Buches „A Natural History of Rape“ deutlich gemacht, warum sie gerade das eben nicht tun. Auch Steven Pinker verteidigt den Ansatz in seinem Buch „Das unbeschriebene Blatt“ und fordert eben aufgrund dieser Verhaltensdeutung härtere Gesetze gegen Vergewaltigung (vgl. S. 367-68 in der englischen Taschenbuchausgabe). Überhaupt scheint Lux darauf zu setzen, dass ihre Zuhörer und Leser die Werke nicht kennen, auf die sie sich bezieht.

Während einige ihrer Einwände trotzdem noch ein gewisses Maß an Substanz haben, klappt einem bei ihren Ausführungen zu Richard Dawkins glatt die Kinnlade runter. So muss man lesen: „Mit der Soziobiologie ließe sich durchaus eine individuelle Eugenik begründen.“ (S. 171). Natürlich lässt sich mit Hilfe der Naturwissenschaften überhaupt keine Eugenik begründen oder legitimieren, das wäre ja eben der berüchtigte naturalistische Fehlschluss. Die ganze Zeit rückt sie Dawkins „implizit“ in die Nazi-Ecke, wenn sie Themen wie Sorge für Behinderte, Alte und Arbeitslose aufgreift und darstellt, welche furchtbaren Dinge so angeblich „in dieser Logik“ (S. 171) aus Dawkins Ansatz des egoistischen Gens folgen müssten. Dabei wird sie recht deutlich: „Dawkins' Ausführungen (...) bieten zudem Anknüpfungspunkte für völkisch-nationalistische Ideen“. Wer den linksliberalen Humanisten Dawkins und seine Schriften über diese Themen kennt, kann dieses Urteil nicht nachvollziehen.

Das Problem liegt darin, dass Vanessa Lux von den biologischen, ultimaten Ursachen für menschliche Verhaltensweisen eine ethische Rechtfertigung ableitet. Das ist eben genau der Fehler, den die Sozialdarwinisten gemacht haben und den Frau Lux den heutigen Soziobiologen unberechtigter Weise vorwirft.

Es stellt sich bei der Lektüre zunehmend die Frage, warum sie das tut, denn nach einem bloßen Missverständnis klingt das alles nicht mehr. Unter „Autorinnen und Autoren“ erfährt man, dass Vanessa Lux für ein gewisses „Forum Kritische Psychologie“ publiziert. Auf der offiziellen Website des Forums (oben links wird man begrüßt von einem Porträt von Karl Marx) liest man: „Critical Psychology kann mittlerweile für alles stehen, was nicht experimentell-statistisch orientiert ist: vom Sozialen Konstruktionismus über Diskurstheorie bis zur psychoanalytisch orientierten Gruppentherapie.“

Bei Wikipedia heißt es über die Kritische Psychologie: „Eine solche Analyse ist im Gegensatz zu einer ‚kontrollwissenschaftlichen‘ nicht darauf aus, sicher zu stellen, dass Menschen sich den Anforderungen und Zumutungen fügen, die mit der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer spezifischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse einhergehen. Vielmehr soll sie eine ‚soziale Selbstverständigung über Handlungsbegründungen‘ ermöglichen, die im Blick behält, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Menschen geschaffen, und daher veränderbar sind – und entsprechende Handlungsmöglichkeiten eröffnen.“

Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu den richtigen Wissenschaften geht es der Kritischen Psychologie nicht um die Wahrheitserkenntnis – es steht bereits fest, dass „gesellschaftliche Verhältnisse von Menschen geschaffen, und daher veränderbar sind“ –, sondern um eine Veränderung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Da die empirischen Wissenschaften ohnehin im Dienste der kapitalistischen „Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ stehen, ist von ihren Ergebnissen von Anfang an nichts zu halten, ganz egal, wie diese aussehen. Die Antwort auf die Frage, ob die Erde rund ist oder eine Scheibe, hängt also für Anhänger der Kritischen Psychologie allein davon ab, welche Option für die jeweiligen politischen Ziele besser dienlich ist.

Mit Wissenschaft hat der Beitrag also nichts zu tun und insofern muss man die Kritik auch nicht ernstnehmen, was ohnehin ziemlich schwerfällt. Für eine ernsthafte Diskussion der Soziobiologie bieten sich vielmehr die Beiträge von Franz M. Wuketits, Christoph Antweiler und Hans-Walter Leonhard an.