Tierrechte | 12.06.2012

Die Überwindung der Trennlinie zwischen Mensch und Tier

Darwin-Jahr Bild

von Colin Goldner

Es ist mir eine besondere Freude, in diesem nachgerade „sakralen Rahmen“ der Deutschen Nationalbibliothek ein paar Worte an Sie richten zu dürfen, vor allem, weil ich dies ausdrücklich als Tierrechtler tun darf. Bislang kamen Tierrechtler weder in solch distinguiertem Rahmen noch vor solch illustrem Publikum besonders häufig zu Wort.

Zudem freut es mich natürlich ganz besonders, aus Anlass der Verleihung des Ethikpreises der Giordano-Bruno-Stiftung an Paola Cavalieri und Peter Singer sprechen zu dürfen, an zwei Vordenker der Tierrechtsbewegung, ohne die es diese Bewegung in all ihrer Bandbreite nicht gäbe. Die Schriften Peter Singers und Paola Cavalieris – genannt seien Singers Grundlagenwerk Animal Liberation: Die Befreiung der Tiere von 1975, das als Fundament der modernen Tierrechtsbewegung bezeichnet werden kann, und Cavalieris weiterführende Arbeit Die Frage nach den Tieren: Für eine erweiterte Theorie der Menschenrechte von 2001 – bilden bis heute die philosophische Basis tierrechtlichen Denkens und Handelns. Singer und Cavalieri kommt das Verdienst zu, die Idee des Tierrechts, wie es sie ansatzweise schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gibt – genaugenommen gab es solche Forderungen schon in der Antike –, zu einer schlüssigen Gesellschaftstheorie zusammengefasst und fortentwickelt zu haben.

1993 haben sie das Great Ape Project initiiert. Es beinhaltet die Forderung, die Großen Menschenaffen – Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos – aufgrund ihrer großen genetischen Ähnlichkeit mit dem Menschen und ihren ähnlich komplexen kognitiven, affektiven und sozialen Fähigkeiten bestimmte Grundrechte zuzuerkennen, die bislang dem Menschen vorbehalten sind: Das Grundrecht auf Leben, auf individuelle Freiheit und auf körperliche wie psychische Unversehrtheit, wodurch praktisch alle Fälle erfasst sind, die Menschenaffen in Bezug auf Menschen betreffen können: Jagd, Wildfang, Zirkus, Zoo, Tierversuche. Es solle den Großen Menschenaffen der gleiche moralische und gesetzlich zu schützende, d.h. auch einklagbare Status zukommen – Lebensrecht vor allem –, der allen Menschen zukommt. Singer und Cavalieri, dazu eine Reihe hochrenommierter Wissenschaftler – darunter auch gbs-Preisträger Richard Dawkins – wiesen überzeugend nach, dass die tradierte Ungleichbehandlung von Menschen und Menschenaffen im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnis nicht länger haltbar und damit moralisch zu verwerfen ist.

Das Great Ape Project, hochambitioniert und engagiert auf den Weg gebracht, verlor allerdings nach ersten Erfolgen – 1999 verbot Neuseeland per Gesetz sämtliche Experimente an Menschenaffen – relativ bald an Momentum und stagniert seit einigen Jahren ohne greifbares Ergebnis vor sich hin. Weshalb, fragt man sich, ist das grundlegende und zentrale Projekt der Tierrechtsbewegung, nämlich das Durchbrechen der speziesistischen Artenschranke mit Hereinnahme der Großen Menschenaffen in die „Gemeinschaft der Gleichen“, der bislang nur Angehörige der Spezies Homo sapiens zugehören, nahezu komplett zum Erliegen gekommen?

Eben weil es nicht nur um eine sittliche Selbstverpflichtung des Menschen geht, mit Tieren anständiger umzugehen, als es üblicherweise getan wird, wie dies die Idee des traditionellen Tierschutzes ist, der sich karitativ-wohlwollend dem Tiere zu- oder zum Tier hinabneigt, sondern um das Infragestellen der bislang sakrosankten Trennlinie – hier Mensch, da Tier –, das mit Allgewalt verhindert werden muss, will der Mensch „Krone der Schöpfung“ bleiben. Es ist dies der Grund, weswegen nicht einmal die „engsten Verwandten“ des Menschen im sogenannten Tierreich in die Gemeinschaft der Gleichen einbezogen werden dürfen; beziehungsweise gerade sie nicht.

Das Verhältnis des mitteleuropäischen Menschen zum Menschenaffen ist relativ neu. Die ersten „Großen Affen“, Schimpansen zunächst, kamen ab 1630 auf Handelsschiffen nach Europa. Sie wurden schnell zur Attraktion der zu dieser Zeit aufkommenden Menagerien und Tiersammlungen „aufgeklärter“ und insofern „naturbegeisterter“ Landesfürsten. Die bedeutendste Menagerie ihrer Zeit wurde ab 1662 im Schlosspark von Versailles eingerichtet. Das Auftreten der Menschenaffen in Europa erschütterte die bis dahin unhinterfragt herrschende Selbst- und Weltsicht des christlichen Abendlandes in einem Maße, wie man sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann: Ihrer augenfälligen Ähnlichkeit mit dem Menschen wegen bedeutete ihr Auftreten nichts weniger, als dass zum einen aufgrund der gesetzten Gottesebenbildlichkeit des Menschen der Affe – ungeheuer und undenkbar – gottähnlich sein müsste; und dass zum anderen – gleichermaßen ungeheuer und undenkbar – eben damit das Alleinstellungsmerkmal des Menschen und damit seine Vorherrschaft über die Natur in Frage gestellt sei.

Mit größtem Aufwand und in einer Schärfe, wie dies mit Blick auf die bislang bekannte Tierwelt nicht erforderlich gewesen war – menschenähnliche Tiere waren bis dahin in Europa völlig unbekannt gewesen –, suchte man von Kanzeln und Kathedern herunter die Trennlinie zwischen Mensch und Tier endgültig und über jeden Zweifel erhaben nachzuziehen. Vergleichbar dem jesuitischen Vorgehen gegen Galilei und insofern wider jede Empirie, die zu Beginn der Aufklärung und ebendiese markierend längst wissenschaftlicher Standard war, griff man zurück auf die später als Scholastik bezeichnete Wissenschaftsdoktrin des ausgehenden Mittelalters – namentlich auf den Spätscholastiker Thomas von Aquin –, die darin bestand, Beobachtungen rein deduktiv, also vom Allgemeinen ins Besondere schließend, so zu deuten, dass sie mit vorgegebenen Prinzipien und deren Konsequenzen vereinbar waren. Während alle Wesen beseelt seien, so die Auffassung des Thomas von Aquin, verfüge nur und ausschließlich die menschliche Seele über die Kraft des göttlichen und damit unsterblichen Geistes, der den Menschen „essentiell“ über die Tiere hinaushebe. Mit Nachdruck wurde damit die in der Bibel grundgelegte Doktrin der Gottebenbildlichkeit des Menschen festgeschrieben, die diesen über die gesamte Natur erhebe und diese seiner Herrschaft und Nutzung unterwerfe. Ausdrücklich festgeschrieben wurde insofern das biblische Diktum des 1. Buches Moses, in dem Gott selbst seinen Ebenbildern befiehlt, zu „herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und alle Tiere des Felds ... Machet sie euch untertan und herrschet ... Furcht und Schrecken vor euch über alle Tiere“.

Es gilt dieses Verdikt unverändert bis heute und besetzt das kollektive Bewusstsein wie kein zweites: Unmissverständlich erklärt der aktuell gültige Weltkatechismus der Katholischen Kirche, federführend herausgegeben im Jahre 1993 durch den seinerzeitigen Kurienkardinal Joseph Ratzinger und jetzigen Papst Benedikt (just im Erscheinungsjahr des Singer/Cavalieri-Buches zum Great Ape Project): „Gott hat die Tiere unter die Herrschaft des Menschen gestellt, den er nach seinem Bilde geschaffen hat.“ Somit dürfe der Mensch sich der Tiere zur Ernährung und zur Herstellung von Kleidung bedienen, er dürfe sie abrichten, um sie sich dienstbar zu machen; medizinische und wissenschaftliche Tierversuche seien „sittlich zulässig“, sei doch – mit Thomas von Aquin – das „Gewaltverhältnis zwischen Mensch und Tier grundsätzlich unaufhebbar“.

Ungeachtet der Aufnahme von Tierschutz in das deutsche Grundgesetz im Jahre 2002 – Artikel 20a – gilt der Ge- und Verbrauch von Tieren nach wie vor als völlig „normal“: Die meisten Menschen betrachten Tiere ausschließlich als Mittel zum Zweck. Es gilt als unhintergehbare Selbstverständlichkeit, dass Tiere für menschliche Nahrung und Kleidung ausgebeutet, gequält und getötet werden, dass sie für die Erforschung und Testung von Medikamenten oder Kosmetika vergiftet, verbrüht, verbrannt, vergast oder ertränkt werden, dass ihnen Augen, Magen und Haut verätzt, ihre Stimmbänder durchtrennt, ihre Knochen zertrümmert, zersägt, ihre Schädel zerschmettert werden, dass sie von Jägern gehetzt, erschlagen oder erschossen werden, sie zum Gaudium des Menschen in Zoos ausgestellt und in Zirkussen vorgeführt werden, dressiert und zu widersinnigstem Verhalten genötigt, dass sie zu Sport und Freizeitvergnügen jedweder Sorte herhalten müssen. Und das alles nicht nur mit dem Segen der Katholischen Kirche, sondern in ihrem beziehungsweise ihres Gottes ausdrücklichem Auftrag: „Machet sie euch untertan und herrschet ...“

Nicht nur die katholische Kirche, auch die evangelische und jede andere der christlichen Religionsgemeinschaften, desgleichen das Judentum und der Islam in all ihren Ausprägungen, beziehen sich grundlegend auf die biblisch begründete Einzigartigkeit des Menschen als Ebenbild Gottes samt dem daraus hergeleiteten Anspruch des Menschen, die Natur zu beherrschen. Es ist das Wesen jeder Religion, den Menschen aus der Natur herauszuheben und ihn rückanzubinden an Gott bzw. je nach theologischer Ausrichtung an mehrere und unterschiedliche Götter, an das Göttliche, das Numinose usw. Religion – zumindest in ihren dogmatisch verfassten Formen – ist immer Ausdruck und Rechtfertigung der Herrschaft von Menschen über Menschen und vor allem: Herrschaft des Menschen über die Natur. Tierrechts- oder Tierbefreiungsarbeit muss insofern immer und grundlegend Religionsbefreiungsarbeit sein. Auch und vor allem von den weichgespülten Formen, wie sie etwa innerhalb der evangelischen Kirche zu beobachten sind, in der zunehmend Fragen des Umganges mit dem Tier thematisiert werden. Dabei geht es den einschlägigen Gruppierungen immer nur um Reformen, um größere Käfige, kürzere Wege zum Schlachthof, schmerzfreiere Tötung usw., nie aber um die prinzipielle Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung der Tiere deshalb, weil diese ein Recht auf Unversehrtheit von Leib und Leben oder auf Freiheit hätten.

Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ernstzunehmende TierrechtlerInnen sind selbstredend immer auch TierschützerInnen, wenn es darum geht, reales Tierleid bestmöglich und weitestgehend zu mindern, wo Unterdrückung, Ausbeutung und Leid unmittelbar nicht beendet werden können. Die Forderung aber nach Beendigung jedweder Ausbeutung – sprich: die Dekonstruktion der sakrosankten Grenzziehung zwischen Mensch und Tier – tritt dahinter nicht zurück. Klassischer Tierschutz, der ausschließlich auf Reformismus oder nur auf bestimmte Tierarten abstellt – Hunde und Katzen werden gehätschelt, Rinder und Schweine werden gegessen –, ist aus tierrechtlicher Sicht – auch aus der Singers und Cavalieris – abzulehnen: er schreibt Tierausbeutung prinzipiell und programmatisch fort. Wer es mit der Sache der Tierrechte wirklich ernst meint, kann meiner persönlichen Überzeugung nach auch nicht nicht-vegan sein.

Zurück zu den Menschenaffen: Zeitgleich mit der Ankunft der ersten Schimpansen in Europa sah der französische Jesuitenschüler René Descartes sich berufen, die Sonderstellung des Menschen in der Natur naturwissenschaftlich zu untermauern. Wortreich versuchte er nachzuweisen, dass Tiere nicht nur weniger Vernunft hätten als die Menschen, sondern gar keine, und zwar anhand der Unfähigkeit von Tieren so zu sprechen, dass der Mensch sie verstehe. Ihre Seele also, so seine Folgerung, sei „von einer ganz anderen Natur als die unsrige“. Er setzte Tiere insofern mit Automaten gleich, deren Bewegungen rein mechanischen Gesetzen folgten, ohne Bewusstsein, ohne Gedanken, ohne Gefühl. Nur der Mensch, gleichwohl auch er mechanisch konstruiert, verfüge über Sprache und Vernunft als Universalinstrumente des Handelns. Nur er sei insofern gottebenbildlich, herausgehoben aus der Natur und frei in seinen Entscheidungen und seinem Tun.

Descartes Auffassung wurde, kolportiert von Talar- und Soutanenträgern jeder Couleur, zur Grundlage aller modernen Wissenschaft, die in irgendeiner Form mit dem Tiere zu tun hat. Zentrales Diktum: Tiere können nicht denken, nicht fühlen, nicht leiden, der Mensch kann insofern, ganz im Sinne des biblischen Unterjochungs- und Ausbeutungsauftrages aus dem 1. Buch Mose, mit ihnen tun und lassen, was ihm beliebt. Gerade den Kirchen kam Descartes sehr gelegen, vor allem in der zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufkeimenden Diskussion, die aufgeklärte Denker wie Leibniz, Voltaire oder Hume vom Zaune brachen, die bislang dogmatisch vertretenen, d.h. völlig unhinterfragt geltenden Ansichten über das Verhältnis Mensch-Tier mit neuen, nunmehr empirisch gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen zu verknüpfen. Anhand der mittlerweile in zahlreichen Tiersammlungen und Menagerien anzutreffenden Schimpansen – ab Mitte des 18. Jahrhunderts kamen erstmalig auch Orang-Utans und Gorillas nach Europa – wurde die Diskussion stetig vorangetrieben, bekämpft mit allen zu Gebote stehenden Mitteln von den Vertretern der „alten Ordnung“.

Die Menschenaffen blieben in Gefangenschaft in der Regel nicht lange am Leben, viele starben kurz nach ihrer Ankunft, die meisten schon während der Schiffspassage. Ihre toten Körper wurden in der Regel zerstückelt und in Spiritus eingelegt, auch ausgestopft oder skelettiert, und reisten als Anschauungs- und Studienmaterial quer durch Europa. Menschenaffen wurden somit allgemein bekannt.

1758 sorgte der schwedische Naturhistoriker Carl von Linné mit seinem Werk Systema Naturae für ein mittleres Erdbeben in der abendländisch-akademischen Welt: Er hatte es gewagt, in seiner – bis heute bestehenden und gültigen – Taxonomie der Arten die „Großen Affen“ aufgrund deren unabstreitbarer anatomischer und physiologischer Ähnlichkeit zum Homo sapiens der gleichen Familie der „Hominidae“, der Menschenartigen, zuzuordnen. Einer der vehementesten Kritiker Linnés war der Göttinger Zoologe Johann Friedrich Blumenbach, der der Verletzung der geheiligten Trennlinie zwischen Mensch und Tier heftig widersprach und nicht nur eine eigene Taxonomie aufstellte, sondern mit der Zuweisung eines lateinischen Artennamens an den Schimpansen diese Trennlinie in einer Weise nachzog, wie es deutlicher und schärfer nicht ging. Bis dahin waren Schimpansen als „Indische Satyrn“ bezeichnet worden – Satyrn sind ungehobelte Waldschrate aus der griechischen Mythologie –, aber eben auch als Schimpansen, abgeleitet, wie manche vermuten, aus einem im Kongo gebräuchlichen Begriff, der schlicht „Affenmensch“ bedeutet.

Blumenbach gab dem Schimpansen den Namen Pan troglodytes, wie er bis heute wissenschaftlich heißt. Troglodyt ist ursprünglich der griechische Begriff für Höhlenbewohner, übertragen galt er im Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts als verächtliche Bezeichnung für Menschen mit ausgeprägt schlechtem, unkultiviertem Benehmen. Pan, der Gattungsbegriff selbst für die Schimpansen, wurde nach Pan, dem griechischen Gott der ungebändigten Natur, gewählt, der, über und über behaart und mit meist erigiertem Phallus durch die Wälder zog und die Menschen, die seiner ansichtig wurden, darob in panischen Schrecken versetzte – daher auch der Begriff „Panik“. Mit dem Gattungsnamen Pan wurde der Schimpanse zum „ganz Anderen“ erklärt, zum Inbegriff des verfemt „Animalischen“, des „Leibhaftigen“, all dessen, was judäo-christliche Zivilisation und Kultur seit je zu unterdrücken und zu beherrschen suchten: nämlich Sexualität und Eros.

Der griechische Gott Pan, seiner Dauergeilheit wegen im hellenischen Mythos stets mit Bockshörnern und Bocksfüßen dargestellt, wurde im christlichen Mittelalter als Vorbild für die von den Scholastikern neuerfundene Gestalt des Teufels herangezogen. Nun war das Böse leibhaftig da: in Gestalt des Schimpansen, der insofern dringend weggesperrt werden musste, am besten hinter doppelte Gitterstäbe, wo das Bürgertum ihn dann aus gebührendem Abstand und mit wohligem Schauer begaffen konnte. Pan troglodytes: alleine im Namen doppelt geächtet, doppelt abgewertet, doppelt „verandert“.

Gut hundert Jahre später, 1859, veröffentlichte Charles Darwin seine Theorie über die Entstehung der Arten, deren zentrale Aussage die der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen ist. Während in Wissenschaftskreisen die Tatsache der Evolution – mithin gemeinsamer Vorfahren von Menschenaffen und Menschen – relativ schnell und so gut wie universell akzeptiert wurde, stieß sie – und stößt bis heute – in fundamentalreligiösen Kreisen auf erbitterten Widerstand. Auch ins Alltagsbewusstsein ist sie längst noch nicht vollständig eingedrungen.

Daran haben auch all die ethologischen Befunde nichts geändert, die seit den 1960er Jahren über das Leben von Primaten in freier Wildbahn zusammengetragen wurden: dass sie tradierte Formen von Kultur haben, einschließlich der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen oder bei Krankheiten bestimmte Heilkräuter einzusetzen; dass sie Ich-Bewusstsein haben samt einer Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft; dass sie über kognitive, soziale und kommunikative Fähigkeiten verfügen, die sich von denen des Menschen allenfalls graduell unterscheiden und emotional genau so empfinden wie dieser. Ebenso wenig bewirkt haben die Befunde der modernen Genetik, die es naturwissenschaftlich unhaltbar machen, überhaupt zwischen Menschen und Menschenaffen zu unterscheiden: die Erbgutunterschiede etwa zwischen Mensch und Schimpanse bewegen sich je nach Messmethode im minimalen Prozent- oder gar nur im Promillebereich.

Zur innerhalb der Tierrechtsszene viel und kontrovers diskutierten Frage, was den Einsatz gerade für Menschenaffen rechtfertigt, durch deren allfälligen Einbezug in die Rechtsgemeinschaft der Menschen sich nur die Grenzlinie verschöbe und nun Menschen und Menschenaffen auf der einen von allen anderen Tieren auf der anderen Seite trennte, woraus letztere – Elefanten, Delphine, Kühe, Schweine, Hühner etc. – keinerlei Nutzen bezögen, ist in aller Pragmatik zu sagen: Irgendwo muss man anfangen. Zudem – und das ist das Entscheidende – stellen Menschenaffen den Dreh- und Angelpunkt des Verhältnisses Mensch-Natur dar, sie definieren wie nichts und niemand sonst die sakrosankte Grenzlinie zwischen Mensch und Tier: sind sie festgeschrieben „auf der anderen Seite“, sind das alle anderen Tiere mit ihnen. Würde die Grenze durchlässig, könnte das in der Tat ein „Türöffner“ sein, als den auch Singer und Cavalieri das Great Ape Project verstehen, der letztlich allen Tieren – den menschlichen wie den nicht-menschlichen – zugutekäme. Im besten Fall könnte es zu eben jenem Dammbruch führen, den die Vertreter der „alten Ordnung“ so sehr befürchten: zu einem radikalen Wandel des gesellschaftlichen Konsenses über das bisherige Verhältnis Menschen-Tier.

Das 1993 von Peter Singer und Paola Cavalieri initiierte Great Ape Project, dessen Ziel es war und ist, den Großen Menschenaffen das Recht auf Unverletzbarkeit von Leib und Leben, auf individuelle Freiheit und Selbstbestimmung im Rahmen ihrer natürlichen Anlagen zu garantieren, ist, wie eingangs erwähnt, in den letzten Jahren praktisch zum Erliegen gekommen. Nach dem ersten Erfolg 1999 in Neuseeland ging jahrelang überhaupt nichts voran, 2007 dann gab es einen weiteren kleinen Erfolg: die Inselgruppe der Balearen als autonome Region Spaniens beschloss, bestimmte Grundrechte für Menschenaffen einzuführen. Eine Forderung des spanischen Parlaments, entsprechende Schritte auf nationaler wie internationaler Ebene einzuleiten, verstaubt seit Jahren unbearbeitet in einer Schublade der Regierung Zapatero. Der von einer österreichischen Tierrechtsgruppe angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte es ab, sich überhaupt mit der Frage nach Grundrechten für Menschenaffen zu befassen. Ob man es als Erfolg feiern kann, dass seit Mai 2010 in den Staaten der EU medizinische Versuche an Menschenaffen nur noch ausnahmshalber erlaubt sind, kann dahingestellt bleiben; in den USA und in vielen anderen Ländern gibt es diesbezüglich keinerlei Einschränkung.

Was also tun, um wieder Schwung in das Great Ape Project zu bringen, das letztlich das zentrale Projekt tierethisch motivierten Tuns darstellt bzw. darstellen sollte: Es geht um nichts weniger, als um die Notwendigkeit, die künstlich hochgezogene speziesistische Barriere in den Köpfen der Menschen zu durchbrechen. Alles andere ist Stückwerk. Ganz abgesehen davon, dass eine globale Festschreibung von Grundrechten für die Großen Affen wahrscheinlich deren letzte Überlebenschance als Art darstellt, und selbstredend für jedes einzelne ihrer Individuen ganz reale Befreiung bedeutet.

Ich plädiere insofern für einen konzertierten Neustart des Projektes, dem heute weitaus größere Chancen beschieden sein dürften als Anfang der 1990er: alleine schon deshalb, weil tierrechtliches Bewusstsein – nicht zuletzt dank der bahnbrechenden Arbeiten von Singer und Cavalieri – weltweit sehr viel weiter fortgeschritten ist als noch vor 20 Jahren, was sich in einer Unzahl entsprechender Kampagnen und Organisationen zeigt – ich weise an dieser Stelle auf die Infostände im Foyer hin, u. a. des Bundesverbandes Menschen für Tierrechte; und zum anderen, dass über das Internet ganz neue Möglichkeiten der Vernetzung und damit der Ausübung politischen Drucks bestehen. Nachdem die Hoffnung, dass von Spanien aus den Großen Menschenaffen der große Sprung gelingen könnte, sich als trügerisch erwiesen hat, könnte Deutschland dieses Sprungbrett werden. Dass von den gegenwärtigen Regierungsparteien aus Union und FDP für Tiere nichts zu erwarten ist, ist klar, aber wie es aussieht, werden in der Bundesregierung ab 2013 die Grünen eine bedeutendere Rolle spielen, die schon auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz 1989 analog zur Deklaration der Menschenrechte von 1789 „Grundrechte der Tiere“ proklamierten. Man kann sie beizeiten daran erinnern.

Apropos: Was mich mit Blick auf einen Neustart des Great Ape Projects optimistisch stimmt: es gibt heutzutage eine Giordano-Bruno-Stiftung, die sich mit allem, was ihr zu Gebote steht, für die Umsetzung der Ziele des Great Ape Project einsetzen wird. Der heutige Abend mit der Verleihung des Ethikpreises an Peter Singer und Paola Cavalieri ist insofern nur der Auftakt für weiteres Engagement im Interesse unserer haarigen Verwandten: unserer Brüder und Schwestern Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos. Und letztlich im Interesse aller menschlichen und nicht-menschlichen Tiere.

Sehr geehrte Paola Cavalieri, sehr geehrter Peter Singer, ich danke Ihnen herzlich für Ihr herausragendes Engagement für die Interessen der Tiere und gratuliere Ihnen zum Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung 2011!

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Alibri Verlages.