Hirnforschung | 04.09.2010
Der Psychotrip als Freizeittipp
Rapide wachsen die Erkenntnisse, wie körpereigene Botenstoffe in verschiedenen Hirnregionen unsere psychische Befindlichkeit prägen. Die Rede von Glückshormonen und biochemischen Stimmungsmachern mag eine schlechte Metapher sein, doch dass unsere Befindlichkeit physiologisch nicht nur ge-, sondern auch bestimmt wird, lässt sich schwerlich bezweifeln. Mit dem Erkenntnisgewinn nimmt die Möglichkeit gezielter Eingriffe zu.
Schon jetzt wachsen (insbesondere in den USA) Menschen auf, die mit Prozac ihre Niedergeschlagenheit bekämpfen, mit Ritalin ihre Aufmerksamkeit erhöhen oder mit Paxil ihre Schüchternheit zu überwinden trachten. "Heutige Psychopharmaka verdanken wir Zufallsentdeckungen. Künftig aber werden wir eine Macht über das Gehirn gewinnen, von der wir niemals zu träumen gewagt hätten", vermutet der Neuropsychologe Antonio Damasio von der University of Iowa.
Vielleicht werden sich die Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr – je nach Geschmack – mit trällernder Schlagermusik, Kerzenlichtromantik oder Alkohol in Stimmung bringen, sondern ihren Gemütszustand aus einem Chemikalien-Cocktail individuell zusammenstellen – passend zur Krawatte, dem Wetter oder der gerade angesagten Partylaune: der Psychotrip als Freizeitgestaltung, die neurokosmetische Pharmakologie als neuer Absatzmarkt. Und wer nicht mitfühlt, könnte als antiquiert und vielleicht sogar gefährlich gelten und wird womöglich schon zu Lebzeiten in eine biochemische Hölle geschickt – ein paar Moleküle genügen.
Und später werden solche Korrekturen womöglich gar nicht mehr nötig sein, sondern gentechnisch von vornherein ausgeschlossen. Altmodische Empfindsamkeiten sind dann aus dem Erbgut des Menschen eliminiert.
"Die Qualen der Ich-Jagd, diesen uralten, in den neuen Katalog genetischer Defekte aufgenommenen Trieb, hat man ihm gründlich ausgetrieben. Anvisiert ist die geschichtslose Kreatur, ein Wesen ohne Vergangenheit, nur noch mit einer Zukunft aus fremder Hand, Ichlosigkeit als Ideal einer neuen Befindlichkeit", fürchtet der Mediziner Linus Geisler. "Das Ganze vollzieht sich in einem interdisziplinären Alptraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker, Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten, Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker aus ihren Welt- und Menschenbildern eine Patchwork-Kreatur namens Mensch zusammenphantasieren, eine Art hochkomplexen humanoiden Tamagotchi, zum ‚lieb haben‘ ebenso geeignet wie zur programmierten Entsorgung."