Presseschau | 13.10.2010
Religiosität als Exaptation?
Die gewichtige Ausnahme ist seine Position, dass Religiosität zwar nicht unbedingt eine Adaption sein muss, aber nur, weil sie ebensogut eine Exaptation sein könnte. Aber eine Exaptation ist nicht dasselbe wie ein Nebenprodukt und genau diese Möglichkeit scheint er auszuschließen. Und da liegt das Problem, da viele Wissenschaftler wie Richard Dawkins und Sam Harris die Religiosität als genau das ansehen, ein Nebenprodukt.
Eine Exaptation ist ein Nebenprodukt auf dem Weg zur Adaption. Religiosität könnte, wie Blume vermutet, eine aus „der Verschaltung älterer Gehirnfunktionen (wie z.B. Agency Detection, Theory of Mind oder Narrativität)“ evolvierte Exaptation sein. Wie Blume schreibt: „Damit ist ein Merkmal gemeint, dass durch die 'kreative Zweckentfremdung' früherer Strukturen entstanden und adaptiv geworden ist - gewissermaßen ein Zwischenschritt zwischen Nebenprodukt und Adaption.“
Das würde bedeuten, dass religiöse Menschen der nächste Schritt in der Evolution wären, so eine Art X-Men. Atheisten gehören dann zu einer aussterbenden Spezies.
Als Adaption wäre Religiosität in dem Sinne angeboren, wie es der Sexualdrang ist. Dann ergäbe es ebensoviel Sinn, den Leuten einzureden, dass sie keinen Sexualdrang hätten, wie, dass es keine Götter gäbe. Es wäre reine Zeitverschwendung. Für diese Menschen gäbe es Götter in der selben Art, wie es für uns Farben gibt oder Hitze und Kälte oder den sauren Geschmack einer Zitrone. Götter wären aus ihrer subjektiven Perspektive absolut real. Und religiöse Menschen glauben das, weil es dazu führt, dass sie mehr Kinder haben – vor allem streng religiöse Menschen haben meist in der Tat mehr Kinder.
Was spricht nun dagegen, dass Religiosität eine Adaption oder eine Exaptation ist? Gewichtige Gegenargumente von dem Biophilosophen Edgar Dahl und von mir sind in einem älteren Artikel zusammengefasst. Hinzu kommt, und das ist vielleicht noch wichtiger, dass bislang weder eine Hirnregion entdeckt wurde, die speziell für den Glauben an übernatürliche Agenten zuständig ist, noch eine Reihe von Genen mit dieser gesonderten Funktion. Vielmehr sieht es ganz danach aus, als würden die selben Gene und Hirnregionen für Religiosität zuständig sein, wie für andere menschliche Eigenschaften.
All dies sind zwar gewichtige Gegenargumente, aber eine zwingende Widerlegung ergeben sie nicht. Michael Blume könnte recht haben, dass Religiosität eine Exaptation ist. Sollte dem so sein, steht die Menschheit vor sehr großen Schwierigkeiten. Es sind nämlich nicht die liberalen, den Glauben irgendwie gut findenden Wissenschaftler wie Michael Blume, die mehr Kinder bekommen, sondern Fundamentalisten schlagen alle anderen in reproduktiven Angelegenheiten. Das stimmt zwar unabhängig von der Frage, wie Religiosität aus evolutionärer Sicht zu verstehen ist, aber es wäre unendlich schwieriger, etwas gegen den Trend der Fundamentalisisierung der Massen zu tun, wenn Blume recht hätte.
Wie in der letzten Presseschau angemerkt, gibt es weltweit einen Trend in die Richtung, dass es immer weniger Leid gibt, immer mehr Wohlstand für alle. Aber es gibt auch den anderen Trend, der in die Richtung der Fundamentalisierung weist. Der Soziologe Eric Kaufmann kommt in seinem neuen Buch „Shall the Religious Inherit the Earth?“ sogar zu dem Ergebnis: „Ohne eine Ideologie der sozialen Kohäsion kann der Fundamentalismus nicht aufgehalten werden. Die Religiösen werden die Erde besitzen.“
Falls Religiosität allerdings eine Exaptation oder Adaption ist, gibt es keine Ideologie, die noch mehr Kinder zur Folge hätte. Das Ergebnis wäre eine Welt voller Fundamentalisten. Es ist kaum begreiflich, wie irgendjemand, inklusive Fundamentalisten selbst, das für einen wünschenswerten Trend halten kann (denn es werden nicht alle Anhänger der selben Religion sein, sondern Fundamentalisten, die sich gegenseitig bekämpfen).
Sollte das zutreffen, ist nicht ersichtlich, was man dagegen tun könnte. Michael Blume scheint die Aussicht nicht sonderlich zu beunruhigen. Wenigstens einer wäre glücklich in einer Welt, die von religiösen Fanatikern beherrscht wird.