Presseschau | 01.05.2010
In England soll angeblich jeder vierte Mensch irgendwann in seinem Leben eine Geisteskrankheit bekommen. Laut der WHO ist es weltweit jeder vierte Arztbesucher. In Deutschland soll es acht Millionen Spinner geben. Es existieren Organisationen gegen die Stigmatisierung von Verrückten, es gibt Regierungsvertreter und wohltätige Organisationen, die sich um die vielen Irren Sorgen machen.
Tatsächlich sind bei weitem nicht so viele Menschen gestört, sondern die Zahl basiert auf Fehlinterpretationen statistischer Erhebungen. Diese kamen zustande aufgrund zahlreicher Faktoren, darunter die Interessen von Psychiatern und der Pharmaindustrie (und diverser Esoteriker), möglichst viele Menschen für verrückt zu erklären, um ihnen ihr Geld abzunehmen, sowie aufgrund der Sensationslüsternheit der Medien. Ein weiterer Grund ist Verlangen nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Zum Beispiel möchten viele Eltern ihren Kindern einfach ein paar Pillen einwerfen (erinnert sei an den britischen Fischölpillen-Skandal, über den Ben Goldacre in seinem Buch „Die Wissenschafts-Lüge“ berichtet), wenn sie in der Schule nicht aufpassen, anstatt großartig mit ihnen über ihre Schwierigkeiten zu reden.
Ein weiterer Faktor dürfte die christliche Leidensglorifizierung sein. Sich selbst ans Kreuz zu nageln, soll ja in Ländern mit christlicher Tradition ein besonders lobenswerter Einfall sein. Wer viel leidet, der ist nahe bei Gott, darum hat Mutter Teresa ihren Patienten auch keine Schmerzmittel verabreicht. Wir sollen ein leidendes, demütiges Gewürm sein, das vor seinem Schöpfer kriecht. Da kommt die Psychiatrie gerade recht als eine pseudowissenschaftliche Methode, die Menschen zu einem ebensolchen Gewürm zu machen. Leider nicht auf ihre eigenen Kosten, sondern auf Kosten aller Menschen, die unter echten Geisteskrankheiten leiden.
Wie genau der Irrsinns-Mythos erschaffen wurde, das erklärt der Neurowissenschaftler Jamie Horder bei Guardian. Das „Einer von vier“-Verhältnis kam zustande durch die britische „Psychiatric Morbidity Survey“, die zuletzt 2007 fragte, ob die Befragten in der letzten Woche unter Symptomen für die meisten psychischen Krankheiten gelitten haben. Die Zahl der Betroffenen wird noch viel höher, wenn man nach dem Auftreten psychischer Krankheiten in der gesamten Lebenszeit fragt. Studien in Neuseeland und in den USA sind zu dem Ergebnis bekommen, dass 50% aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben ein Rad abhaben. Aber 50%, das Verhältnis ist leider so hoch, dass am Ende zu viele Menschen kritisch nachfragen würden, wie solche Zahlen eigentlich zustande kommen. Also entschied man sich dazu, überall den 25%-Mythos zu verbreiten.
Aber wie sehen eigentlich die Kriterien aus, nach denen Psychiater entscheiden, ob man ein Fall für ihre Couch ist? Um offiziell klinisch depressiv zu sein, muss man den meist gebrauchten Kriterien (wie denen im DSM-4-Standardhandbuch) zufolge zwei bis drei Wochen lang fünf von neun Kriterien erfüllen, darunter Schlafschwierigkeiten und geringere Motivation. Stirbt also der geliebte Opa und man ist zwei Wochen lang traurig, dann ist man bereits nicht ganz bei Trost und ein Fall für den Seelenklempner. Derart vage Kriterien gelten für die meisten psychischen Krankheiten. Entsprechend wissen wir nicht, wie häufig echte psychische Krankheiten vorkommen, die man wirklich behandeln müsste.
Leider hat die Pathologisierung der Massen zahlreiche Probleme erzeugt: Wenn einer von vier Menschen psychisch krank ist, dann sind die Betroffenen nicht wirklich unnormal und man sollte sie nicht stigmatisieren, so die Denkweise der Anti-Stigma-Organisationen. Leider impliziert dies auch, dass eine geringere Zahl Betroffener tatsächlich unnormal wäre und stigmatisiert werden dürfte. Außerdem wird echte Depression als geringfügiges Problem angesehen, da schließlich so viele Menschen darunter leiden.