Rezension | 31.01.2012

Planet der Insekten

Darwin-Jahr Bild

„Überall, wo wir selbst leben und atmen können, da finden wir auch Insekten – und auch einige Orte, die für uns lebensfeindlich sind, haben sie erobert. Sie waren schon lange vor uns hier auf der Erde und werden auch noch lange nach uns da sein. Wir leben auf dem Planeten der Insekten.“

So eröffnet Marcel Robischon seine großformatige Darstellung über ein – und neben den Bakterien sogar das – Erfolgsmodell der Evolution. Untertitel: Von duftenden Ameisen, betrügerischen Leuchtkäfern und gespenstischen Faltern. Der promovierte Biologe, der zurzeit an der Universität Freiburg forscht und lehrt, gibt in 19 Kapiteln auf 200 Seiten (plus rund 20 weiteren mit Register und Literaturhinweisen) einen kurzweiligen Überblick. Ergänzt wird der von zahlreichen prächtigen, oft ganzseitigen Farbfotos.

Das sehr schön gestaltete Buch ist gut und unterhaltsam geschrieben. Es überrascht mit vielen Aha-Effekten und spart nicht an Ausflügen in die Kulturgeschichte und Dichtung. Die Insekten werden nicht in trögen Aufzählungen vorgestellt, sondern in ihren ökologischen und evolutionsbiologischen Kontexten – garniert mit vielen Anekdoten aus der Forschungsgeschichte. Auch die Genetik und Biochemie kommt dabei nicht zu kurz. Beispielsweise werden die chemischen Ursachen der Farben, Düfte und Lichterzeugung skizziert, die den Insekten eine Fülle von erstaunlichen Optionen eröffnen.

Irdische Dominanz

Zwar bilden sich viele Menschen in einem Anflug von anthropozentrischem Mittelpunktswahn ein, die „Krone der Schöpfung“ zu sein. Und tatsächlich hat Homo sapiens sämtliche Lebensräume besiedelt, ist in die Tiefsee vorgestoßen, in Wüsten und an die Pole, auf die höchsten Bergspitzen und sogar bis zum Erdmond. Aber diese fragilen Leistungen sind oder waren nur mit großem technischem Aufwand möglich und bleiben nach wie vor exorbitante Ausnahmen. Schon ein paar Zahlen machen deutlich, welche Tiere eigentlich die Erde „beherrschen“: die Insekten.

Zehn Trilliarden der sechsfüßigen Gliedertiere dürften schätzungsweise die rund 150 Millionen Quadratkilometer Festland, Inseln und Süßgewässer der Erde bevölkern – rund 1,5 Milliarden pro Mensch. Ihre Masse wird auf eine Milliarde Tonnen geschätzt – das entspricht dem Gewicht von 200 Millionen Elefanten. „In einer einzigen Rosskastanie können über eine Million Miniermotten leben, in einem einzigen Vogelnest Tausende von Flöhen, in einem einzigen Astloch Hunderte Käfer“, schreibt Robischon.

Nur in den Weltmeeren kommen Insekten praktisch nicht vor (Ausnahmen sind temporäre Gäste wie marine Wasserläufer, Strandfliegen und Seehundläuse). Die werden von der anderen großen Gruppe der Gliedertiere dominiert, den Krebstieren.
Niemand weiß freilich, wie viele Insektenarten es gibt. Rund 1,2 Millionen sind katalogisiert. Allein von der größten Untergruppe, der Käfer, wurden 360.000 beschrieben, von Fliegen 120.000, von Schmetterlingen und Nachtfaltern 170.000. Jährlich werden mehrere 100 weitere Insektenarten charakterisiert.

Geradezu weltumspannend sind beispielsweise die Flöhe (ihre Artzahl schwankt je nach Publikation zwischen 1400 und 2400). Mioctenopsylla arctica lebt in Möwennestern am Nordpolarmeer, Glaciopsyllus antarcticus dagegen gedeiht auf Sturmvögeln der Antarktis. Dazwischen gibt es allerhand Varietäten: Der größte ist der zehn Millimeter messende Hystrichopsylla schefferi, der ausschließlich auf Stummelschwanzhörnchen in Nordamerika lebt. Erstaunlich sind die Flöhe auch aufgrund ihres „Wunderproteins“ Resilin, das die riesigen Flohsprünge ermöglicht. Es ist der elastischste Stoff, den Wissenschaftler kennen. Allerdings: Um einen Gummiball davon zu produzieren, müsste man Milliarden Flöhe dafür „schlachten“.

Verblüffende Vielfalt

Robischon beschreibt eine Fülle weiterer verblüffender Phänomene: So gibt es unter den Insekten regelrechte Fernmeldetechniker (die Rosen-, Schokoladen- und Lavendeldüfte verströmen), Hacker (die sich in den chemischen Informationsfluss von Pflanzen einschleichen), Schwarzfahrer (die sich die Flügel abbeißen, nachdem sie auf ihrem Wirt gelandet sind), Opportunisten (die sich so gut an andere Arten anpassen, dass sie unentdeckt unter ihren Feinden leben können), Drogenhändler (die über Artgrenzen hinweg raffinierte Geschäftsbeziehungen eingehen) und Trickbetrüger (die andere Arten überlisten, um sie zu fressen).

Überlebenskünstler sind etwa die Larven der Scatella-Fliegen. Sie können in Islands Thermalquellen dank spezieller Hitzeschutzproteine 47 Grad Celsius überstehen. Immer wieder erstaunlich sind auch die Leistungen der staatenbildenden Insekten. Kooperation in Vollendung – und zugleich eine Art Totalitarismus, der gruseln lehrt.

Aber selbst er ist nicht vor Unterwanderung gefeit. So leben in den Ameisen- und Termitenbauten fremde Mitbewohner wie die Ameisenfischchen Atelura, die sich von Abfällen ernähren. „Eventuellen Zugriffen ihrer Wirte entziehen sie sich mit ebenso flinken Bewegungen wie ein Student, der die Bewegung mit der Zimmerwirtin vermeiden will“, schreibt Robischon. Und die Ameisengrille Myrmecophilus, die die Vorräte plündert und wohl auch Eier und Larven ihrer unfreiwilligen Gastgeber verzehrt, passt sich so genau an ihre Wirte an, dass sie deren Stallgeruch imitiert, ihren Bewegungsrhythmus und ihre Körpergröße.

Traurig stimmt, wie viele Insekten aufgrund der menschlichen Planetenschändung zum Aussterben verurteilt sind, während andere sich geradezu globalisieren und einheimische Arten verdrängen. Andererseits sind in den letzten Jahren immer wieder Arten entdeckt worden, die zuvor für ausgestorben erklärt wurden. Die findigen Sechsbeiner sind eben zäh. Und werden uns überleben.

„Wenn wir diesen Planeten verlassen, wenn sich alles wieder erholt, dann wird es wieder überall krabbeln und wuseln und wimmeln und schwirren. Es wird wieder überall summen und surren und brummen und zirpen. Es wird wieder schillern und schimmern und funkeln und glänzen, in Farben, für die es keine Wörter mehr gibt, überall da, wo wir einmal selbst gelebt und geatmet haben, noch lange nach uns werden sie hier auf der Erde sein – auf dem Planeten der Insekten.“


Eine Buchbesprechung von Rüdiger Vaas zum Buch:


Marcel Robischon:
Planet der Insekten.
Haupt: Bern, Stuttgart, Wien 2011.
224 S., € 39,90