Wissenschaftstheorie | 24.03.2009

Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aus: Aufklärung & Kritik 1/2009, S. 94-109


T-RexDie creatio continua und religiöse Vorstellungen über die Entstehung von Bewusstsein und Geist: Konflikt statt Komplementarität

Mit Recht bemerkt Kummer, der Naturalismus sei als methodologisches Prinzip der Naturwissenschaft unabdingbar, weil ihr ansonsten "jener Stachel des rastlosen Voranschreitens von Erklärung zu Erklärung" fehle, der sie so sehr erfolgreich macht. Sie hätte mit Gott als Erklärung "ein Passepartout in der Hand, das ihr das lästige Weiterfragen abnimmt". Dieses willkürliche Postulieren einer transzendenten Entität, für deren Wirken sich keine objektive Grenze angeben lässt, schafft zwar einen "Platzhalter der Ignoranz", aber keine spezifische Erklärung dessen, was einer Erklärung bedarf. Dies ist, wie Kummer darlegt, "gerade der Vorwurf gegen die Intelligent-Design-Variante des Kreationismus" (ID) - sie behauptet nicht nur die Existenz eines transzendenten Seinsbereichs, sondern trägt diese als Wirkfaktor in die Weltwirklichkeit hinein. Damit sind die Konflikte mit den Naturwissenschaften und ihren methodologischen Setzungen vorprogrammiert.

Meines Erachtens ist es einem gerüttelten Maß an Traditionsblindheit geschuldet, dass Kummer trotz der punktgenauen Analyse völlig aus dem Auge verliert, dass die Kritik keinesfalls exklusiv den Kreationismus, sondern immer noch die Mehrzahl der Religionsvorstellungen tangiert. Selbst wenn man die Anhänger religiös fundamentalistischer Strömungen ausklammert, die sich auf Kollisionskurs mit einem mehr oder minder großen Teil der wissenschaftlichen Erkenntnisse befinden und die kausale Erklärungsstrategie der Naturwissenschaften vorsätzlich ramponieren, kommt man nicht umhin festzustellen, dass auch liberalere Religionen auf eine minimale Teleologie angewiesen sind (Mahner 2005). Danach wird nicht einfach nur die Existenz eines transzendenten Seins-Bereichs behauptet. Vielmehr lässt man aufgrund spiritueller Bedürfnisse transzendente Faktoren ebenfalls in die Welt hineinwirken. Das Ziel der Religionen besteht ja gerade darin, den Glauben an die heilige Obhut Gottes zu vermitteln und ihren Anhängern das Zustandekommen zeitweiliger Kontakte zwischen der Welt und jener Übernatur zu versprechen, an die sie glauben. Auch im Sinne einer creatio continua ist die Schöpfung in ihren Gesetzen ständig auf das Eingreifen Gottes hin offen. Das gilt in besonderem Maße für die menschliche Evolution, der man - über die natürlichen Mechanismen hinaus - einen "göttlicher Lenker" zur Seite stellt. Der Evolutionsbiologie wird dabei ganz offensichtlich nicht zugetraut, die Prinzipien der Evolution vollständig zu ergründen; es muss den natürlichen Mechanismen zumindest noch ein "Beleber", ein "évoluteur", eine "ontologische Drift" oder wie immer man den teleologischen Wirkfaktor nennen mag, zur Seite gestellt werden, um die spirituell nur schwer verkraftbare Vorstellung abzuwenden, die Evolution treibe "...wie ein steuerloses Schiff unter wechselndem Wind immer weiter zu irgendeinem Irgendwo", wie es Carsten Bresch so plastisch umschrieb (Bresch 1977, pp. 293).

So respektabel Kummers Bemühungen auch sind, die Religion gegenüber der ideologischen Festlegung des Intelligent Designs abzugrenzen, so unübersehbar ist doch ihre geistige Verwandtschaft. Selbst neuere Entwicklungen wie etwa der pneumatologische Panentheismus von Jürgen Moltmann, auf den Kummer verweist, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier die Schöpfungstheologie in Gestalt einer creatio continua oder "Transzendenz zweiter Ordnung", wie Günter Altner es nennt, das Heft der kausalen Erklärung an sich zu reißen versucht. Gewiss, man will Gott nicht mehr als Wirkursache sehen, verwendet wohlfeile Begriffe, wie "Zweitursache" oder "dieu évoluteur", redet über die "Selbstmitteilung Gottes", über die "Selbsttranszendenz der Schöpfung" durch den Geist Gottes (Karl Rahner) oder über das "Kreativ werden lassen durch Hingabe", eine rhetorische Nebelwand, die den Sachverhalt mehr verschleiert als Klarheit schafft. Gleichwohl wird für Gottes Wirken noch immer eine "Sonderwirklichkeit jenseits des Prozesses der Selbstorganisation" beansprucht (Altner 1987), ein geistiger Impetus, der unablässig in die Welt einwirkt und ohne den die Dinge nichts zustande brächten. Eine solche Philosophie muss zwangsläufig der Erklärungsstrategie der Naturwissenschaften in die Quere kommen und einen Berg ungelöster Probleme und Inkonsistenzen vor sich herschieben. Wie soll denn, so fragt Kang (2003, pp. 63)

"... der kosmische Geist und die kreatürliche Wirkungskraft gleichzeitig in einem Naturgeschehen tätig sein können. Ignoriert das Wirken des Geistes Gottes das Naturgesetz oder stoppt es den Prozess des Naturgesetzes während seiner Wirkung? Wie verhält sich die Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse zu dem Wirken des Geistes? Die heutigen Naturwissenschaftler behaupten im Naturgeschehen eine so genannte 'schwache Kausalität', im Vergleich zu der 'starken Kausalität' in der klassischen Physik. Nun betont allerdings Moltmann die Wahrscheinlichkeitsgesetze sehr stark. Damit wird aber wiederum die Unmittelbarkeit des Wirkens des Geistes Gottes in der Schöpfung problematisiert. Wenn dieses Wirken so direkt wie die Wahrscheinlichkeit der Gesetze wäre und in ihnen stattfinden würde, dann müsste jedes Naturgeschehen aus dem Handeln des Geistes Gottes resultieren."

usw. usf. Auch Kummers Metaphysik ist ein beredtes Beispiel dafür, dass der theologische Kompetenzanspruch offenbar immer dann in die Gegenstandsbereiche der Naturwissenschaft hinein ausgedehnt wird, wenn es die dogmatische Tradition zu fordern scheint:

"Nicht, dass sie [die Metaphysik; M.N.] das Fahnden nach den immanenten Mechanismen und Faktoren der Evolution ersetzte … Aber wenn die selektionäre Antwort versagt, warum es denn einen Elefanten geben muss, wo doch schon die Bakterien perfekt an ihre Umwelt angepasst sind, dann könnte diese Metaphysik eine Art Beruhigung, eine übergeordnete Perspektive liefern: Wir wissen zwar nicht, wie das genau funktioniert mit der Höherentwicklung, aber eigentlich ist es kein Wunder, dass es so etwas gibt, wenn wir einen tieferen Sinn, vielleicht besser gesagt, einen 'Drive' hinter dem Ganzen annehmen … 'eine tiefe ontologische Drift' nennt Teilhard de Chardin diese Sicht eines evolutiven Universums" (Kummer 2006, p. 41).

Die Parallelen zur Evolutionskritik sind nicht zu übersehen: Was dem Evolutionsgegner das intelligente Design, das ist Kummer die tiefe ontologische Drift in Richtung des evolutionären "Omegapunkts". Was dem Anhänger des Intelligent Design die irreduzible Komplexität, das ist Kummer die Höherentwicklung der Lebewesen.(2) Und sowohl die ID-Anhänger als auch Kummer sehen in der vermeintlichen Zielgerichtetheit der Welt sowie im "Versagen" der "selektionären Antwort" einen hinreichenden Grund, den Geist Gottes als ergänzenden "Joker" im Kartenspiel kausaler Erklärungen einzusetzen.(3)

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich will damit nicht sagen, Kummer sei Evolutionsgegner. Doch es ist frappierend, wie bereitwillig ein kompetenter Biologe und begnadeter Schreiber, dessen Kreationismuskritik pointiert ist wie kaum eine andere, wie bereitwillig der Adept der Evolutionsbiologie selbst Glauben und Theologie als legitime Ansätze der Theorienbildung akzeptiert und mit Erkenntnissen der Wissenschaft vermischt sehen will. Dadurch gerät Kummers Argumentation auf eine schiefe Bahn, denn er bedient sich selbst des sattsam bekannten argumentum ad ignorantiam, wenn er seine "ontologische Drift" als supplementäre Erklärung zur Selektionstheorie verstanden haben möchte. Auch die Theologie hat das Problem erkannt, das entsteht, wenn Gottes Schöpfung als unausgesetzter, die Welt im Dasein erhaltender Akt verstanden wird. Die Forderung Eugen Drewermanns, alle kausale Erklärung aus der Schöpfungstheologie zu entfernen, kommt nicht von ungefähr. Ein Gegenstandsbereich, der die Inkompatibilität von naturwissenschaftlicher Erklärung und religiösem Glauben in besonderem Maße verdeutlicht, betrifft die Neurobiologie und die Erklärung der Entstehung von Geist und Bewusstsein. Obwohl alle mentalen Zustände (einschließlich Bewusstsein) streng mit der neuronalen Aktivität bzw. der Art der Verschaltung der Neurone im Gehirn korreliert, scheint es für viele Religiöse immer noch eine intellektuell unzumutbare Vorstellung zu sein, dass der Mensch mit seinem Gehirn denkt. Anstatt zu akzeptieren, dass Geist und Bewusstsein Hirnfunktionen sind, gibt man sich mit der bequemen Antwort zufrieden, eine immaterielle Seins-Ebene namens Geist interagiere mit dem Gehirn. Weder wird dabei gesagt, was Geist eigentlich ist, noch wird expliziert, wie diese Interaktion zwischen Geist und Materie aussehen soll, noch wird die Frage beantwortet, wie das Mentale einem Evolutionsprozess unterliegen kann, wenn es buchstäblich über den Dingen schwebt (Bunge und Mahner 2004, S. 145 f.). Damit ist der Dualismus nicht nur begrifflich schwammig, sondern auch als Erklärungsansatz in der Neurobiologie wertlos und mit der Evolutionstheorie unvereinbar.