Wissenschaftstheorie | 24.03.2009

Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aus: Aufklärung & Kritik 1/2009, S. 94-109


Fazit

Zu meiner Enttäuschung bedient sich Christian Kummer der üblichen Taktik, den Naturalismus zu ideologisieren, indem er ihn teils mit extremen Positionen gleichsetzt, teils einen fruchtlosen Streit um Worte führt, statt über die philosophischen Argumente zu reflektieren. Da der Naturalismus nicht mehr behauptet, als zum Verständnis der Welt erforderlich ist und in der analytischen Philosophie als revidierbar begriffen wird, ist der Ideologievorwurf gegenstandslos. Die Stützungslast trägt derjenige, der die Existenz eines Seins-Bereichs behauptet; nicht derjenige, der die sparsamere Position bezieht, muss beweisen, dass die metaphysisch aufwändigere These falsch ist. Außerdem ist der Naturalismus nicht nur sparsamer und besser begründet als außerweltliche Ontologien, sondern auch heuristisch fruchtbarer. Ungeachtet der philosophischen Differenzen können die Anhänger beider philosophischer Anschauungen in gutem Einvernehmen leben und in den Naturwissenschaften fruchtbar kooperieren, sofern keine religiösen Fundamentalismen ins Spiel kommen. Man muss darum nicht auf Gedeih und Verderb einen Kulturkampf führen. Kummer selbst zeigt ja beispielhaft, ebenso wie Hansjörg Hemminger und viele andere Religiöse, wie man die Evolutionstheorie gegen fundamentalistische Angriffe verteidigen kann. Kummer möchte sich aber offenbar, wie so viele Religiöse und Naturwissenschaftler, auch auf der intellektuellen Ebene arrangieren, indem man eine Art Komplementarität zwischen der Religion und den Naturwissenschaften ausruft, wonach eine teleologische Weltdeutung sozusagen als Vervollständigung der Evolutionstheorie aufgefasst wird. Aber diese Form des Arrangierens ist, wie ich in dieser Arbeit zu begründen versuchte, eine fragwürdige Angelegenheit.

Literatur

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Anmerkungen

(1) In: Stimmen der Zeit 2/2008, pp. 87-100

(2) Entgegen Kummer lässt sich, wie Gould (2002) dargelegt hat, gar keine Höherentwicklung in der Evolution konstatieren, so dass es auch keiner "ontologischen Drift" als Erklärung bedarf. Zwar erscheinen im Laufe der Zeit immer komplexere Arten auf der Bühne des Lebens. Die Erklärung dafür aber ist denkbar einfach: Da die Evolution in der Zeit immer neue Arten hervorbringt, sind zwangsläufig auch immer wieder Arten darunter, deren Komplexitätsgrad höher ist, als der der vorangegangen Arten. Das Ergebnis ist eine Verbreitung der Variation im Laufe der Zeit. Der Eindruck einer Höherentwicklung entsteht nur dann, wenn im "Dickicht der Verzweigungen" des evolutionären Stammbuschs willkürlich ein evolutionärer "Startpunkt" und ein "Endpunkt" gewählt und die Verbindung zwischen beiden Punkten als evolutionärer Trend definiert wird. Statt der Entwicklung vom "Fisch zum Menschen" könnte man ebenso gut auch die Diversifikation innerhalb der Arthropodengruppe als Bezugspunkt wählen.

(3) Selbst, wenn man den Begriff der "Höherentwicklung" akzeptiert und von einem "evolutionären Trend" spricht, ist sich die moderne Evolutionsbiologie doch weitestgehend darin einig, dass sich die Kanalisierung und die damit einhergehende "schöpferische Kraft" der Evolution aus den Gesetzmäßigkeiten des "epigenetischen Systems" selber speist (also aus den Prinzipien der Morphogenese und den Entwicklungspotenzen, die darin schlummern), deren Wurzeln wiederum in seiner Geschichte zu suchen sind. Wozu also eine "ontologische Drift", die nicht mehr ist, als ein undefiniertes Zauberwort?