Wissenschaftstheorie | 24.03.2009

Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aus: Aufklärung & Kritik 1/2009, S. 94-109


Theismus oder Naturalismus - wer trägt die Stützungslast?

Kummer meint, es verlange "… nicht viel Einsicht, dass etwas, das ich vorsätzlich aus dem Bereich der Realität ausgeklammert habe, dann auch nicht in den so verfassten 'Realwissenschaften' auftauchen kann." Der ontologische Naturalismus, der das Transnaturale ausklammere, sei methodologisch nicht gerechtfertigt, sondern "eine unbewiesene Vorentscheidung, eine Option." Diese Behauptung erinnert an die Feststellung Lükes, der Naturalismus mute "… nicht weniger zu glauben zu, sondern nur anderes. Und dies Andere scheint mir, wenn schon nicht unglaublich, so doch zumindest nicht glaubwürdiger" (Lüke 2003, p. 143). Dagegen spricht jedoch das Argument der Begründungslast. Zu Recht sagt Kanitscheider: "Derjenige, der für die Existenz eines Seins-Bereiches plädiert, trägt die argumentative Stützungslast" (Kanitscheider 2003). Wer z.B. behauptet, Telepathie sei ein realer Sachverhalt, muss dies zeigen. Nicht der methodische Skeptizist muss belegen, dass Telepathie unmöglich ist. Entgegen Kummer trägt dieses Prinzip der in den Wissenschaften allgemein üblichen Methodologie Rechnung, wonach man sagt: Solange weder ein empirisches Moment noch ein Theorem für die Existenz eines postulierten Gegenstandes spricht, existiert der Gegenstand in den Augen der Wissenschaften nicht. Wichtig ist diese Methodologie nicht zuletzt deshalb, um sich das so genannte Proliferationsproblem vom Hals zu halten: Fängt man einmal damit an, bestimmte Ereignisse in dieser Welt der Wirkung übernatürlicher Kräfte zuzuschreiben, kann kein vernünftiges Argument diesen Prozess mehr aufhalten: Würde man Kummers "ontologische Drift" als respektablen Evolutionsfaktor neben die bekannten Mechanismen stellen, warum sollte man dann nicht auch in anderen Bereichen der empirisch fassbaren Wirklichkeit den göttlichen Impetus gestatten? Warum sollte man nicht auch davon ausgehen dürfen, der Schöpfer beeinflusse die Entstehung von Planetensystemen oder den thermonuklearen Zyklus auf der Sonne? Ließe man sich von Kummer das Zugeständnis abringen, seine Theologie biete eine intellektuell befriedigende Perspektive, warum sollte man die Tür des Rationalen nicht auch weiter in Richtung der Astrologie und des Okkultismus aufstoßen? Nur wenn man konsequent davon ausgeht, dass es in diesem Universum keine "kausalen Löcher" gibt, in denen sich Götter, Geister oder sonstige außerweltliche Entitäten tummeln, ist es möglich, ein Netzwerk aus erklärungsmächtigen, sich gegenseitig erhellenden Theorien zu konstruieren, das uns ein über die Einzeldisziplin hinausreichendes Weltverständnis vermittelt (Prinzip der Kohärenz).

Vor diesem Hintergrund ist der ontologische Naturalismus nicht einfach eine "unbewiesene Vorentscheidung" - die weltanschauliche Gegenposition zum Theismus -, sondern die "Nullhypothese" der faktischen Wissenschaften, die sparsamste Hypothese über die Welt, wonach nicht mehr Seins-Bereiche postuliert werden, als zum Verständnis des Gesetzesnetzes der Natur unbedingt erforderlich sind. Dies ist ganz entscheidend für die oft behauptete Patt-Situation: Der ontologische Naturalist leugnet nicht a priori den Einfluss transzendenter Wirkfaktoren. Vielmehr wartet er, bis der Anhänger einer außerweltlichen Ontologie gute Gründe vorbringt. Der Skeptiker ist dabei nicht gezwungen, die Nichtexistenz der in Frage stehenden Seinsbereiche zu begründen. Natürlich muss der Naturalismus auch selbst revidierbar sein. Auch er ist, wie Kummer schreibt, "… nicht unantastbar, sondern einer kritischen Überprüfung ihrer logischen Konsistenz und Kohärenz zugänglich." Tatsächlich ist die naturalistische Position aufgrund ihrer Sparsamkeit besser kritisierbar als jede außerweltliche Ontologie. So wäre der Naturalismus zur Beschreibung einer Welt völlig unbrauchbar, in der es akausal, gesetzlos (gewissermaßen wie im "Trickfilm") zuginge, in der z.B. Dinge ins Nichts verschwinden und aus dem Nichts auftauchen, Zombies und Dämonen ein- und ausgehen oder göttliche Lichtgestalten Wasser in Wein verwandeln würden. Mit einem Wort: Würden in dieser Welt Dinge geschehen, die man nur als Wunder bezeichnen könnte, dann wäre ein Naturalist "bereit, seine Postulate zu überdenken und nötigenfalls zu ändern" (Vollmer 1995, p. 40). Ein anderes gutes Argument gegen eine naturalistische Position würde zeigen, dass sie extern inkonsistent ist oder dass nichtnaturalistische Positionen besser begründet sind, als naturalistische. Wenn etwa "geistige Prozesse kausal wirksam sind, dann ist ein harter materialistischer Monismus in Bezug auf das Geist-Gehirn-Problem verfehlt" (Sukopp 2006, p. 93). Die Sache hat nur einen Haken: So sieht die Welt nun einmal nicht aus! Und so muss sich Kummer die Gegenfrage gefallen lassen, unter welchen Bedingungen er bereit wäre, von seiner Ontologie abzurücken.