Wissenschaftstheorie | 24.03.2009

Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aus: Aufklärung & Kritik 1/2009, S. 94-109


Die scheinbare Inkonsistenz des Materialismus

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen seine Ontologie hinfällig wäre, scheint sich Kummer nicht zu stellen, lässt er doch zwischen den Zeilen anklingen, dass es mit der "logischen Konsistenz und Kohärenz" des Materialismus (der sich aus dem Naturalismus ableiten lässt) nicht allzu weit her sei. Um diese These zu untermauern, verweist er, ohne dies näher auszuführen, auf einen seiner Beiträge (Kummer 2007), wo er die Inkonsistenz des Naturalismus nachgewiesen haben will. Süffisant fügt er hinzu, dieser "für naturwissenschaftliche Füße zu heiße Boden philosophischer Reflexion" sei es, der es dem Naturalisten geraten erscheinen lasse, sich wieder "hinter die Sicherheitsbarriere einer nur methodologischen Festlegung" zurückzuziehen. Wie sieht dieses für den Naturalismus so fatale Argument aus?

Der Materialist verneint die Existenz einer autonomen immateriellen Dimension, er gesteht nur materiellen Objekten einen ontologischen Status zu. Immaterielle Objekte (Abstrakta) wie Zahlen, mathematische Terme, Ideen oder sonstigen Denkinhalte existieren nur fiktiv, das heißt sie werden gedanklich konstruiert. Was aber, so Kummer (2007, p. 97), sagt denn der Materie, welche Eigenschaften sie anzunehmen habe? Wie "stecken" denn diese Eigenschaften, die ich brauche, um ein materielles Objekt als veränderbar zu beschreiben, in den Dingen? Es sei, so Kummer "völlig unklar, wie das ohne Zuhilfenahme einer zweiten, eben idealistischen [immateriellen; M.N.] Seins- oder Realitätsebene gehen soll". Und darum sei der Naturalismus inkonsistent, er erkläre nicht, wie die Materie zu ihren Eigenschaften kommt.

Kummers Argument ist ein anschauliches Beispiel dessen, was man in der informellen Logik als Fehlschluss der Äquivokation bezeichnet: Die Eigenschaften lassen sich von den Dingen abstrahieren, man löst sie gedanklich von der Materie ab und spricht über die Dinge. Man spricht z.B. von "der Verdauung" und "der Bewegung". Es wäre jedoch ein schwerer Kategorienfehler, daraus den Schluss zu ziehen, es gäbe eine "Bewegung" ante res oder eine immaterielle Essenz namens "Verdauung", die von außen in die Materie hineinwirken muss, um den Magen-Darmtrakt mit der Fähigkeit auszustatten, Nahrung in ihre Bestandteile zu zerlegen. Nicht die Gesetzmäßigkeit, die der Mensch aus dem Verhalten von Materie abstrahiert, macht, dass die Materie sich verändert, sondern umgekehrt: Materie verändert sich nomisch, aus sich selbst heraus, ohne dass ihr ein intelligentes Wesen jene Eigenschaften zuweisen müsste, die es ihr zuvor gedanklich entrissen hat. Der Begriff der Materialeigenschaften wird rekonzeptualisiert als Summe aller Zustände, die eine bestimmte Entität einnehmen kann.

Gestehen wir dennoch pro forma zu, Kummers Argument sei korrekt, dann ergibt sich als Konsequenz, dass auch die immaterielle Seinsebene selbst wieder eines "Belebers" und "Ordners" bedarf: Wie "stecken" denn wiederum die Eigenschaften, die ich brauche, um der idealistischen Realitätsebene die Fähigkeit zu verleihen, Materie mit Eigenschaften auszustatten, im Immateriellen selbst? Was sagt der idealistischen Realitätsebene beispielsweise, dass eine Niere mit der Eigenschaft zum Urinieren und nicht zum Denken und das Gehirn mit der Eigenschaft zum Denken und nicht zum Urinieren ausgestattet werden muss? Oder woher weiß die immaterielle Ebene, dass ein Elektron eine negative und ein Positron eine positive Ladung zu "besitzen" hat? Benötigt man nicht eine weitere Realitätsebene über dem Immateriellen und über dieser Ebene wiederum eine Realitätsebene und so fort, damit die Welt nicht aus den Fugen gerät?

Wie man sieht, endet Kummers Ontologie in einem unendlichen Regress! Er kann diesen nur dogmatisch abbrechen und muss sich dazu auf die Apriori-Einsicht berufen, "dass sich eine geistige Ordnung (wenigstens bei Gott) aus sich selbst erklärt, wohingegen alle materielle Ordnung nicht nur nicht sich selbst erklärt, sondern auch positiv unbegründet ist und einer weiteren Erklärung bedarf" (Mackie 1985, p. 230). Damit ist Kummers Position nicht nur irrelevant, sondern selbstwiderlegend, weil er das, was er dem Materialismus an inkonsistenter Argumentation unterstellt (den willkürlichen Abbruch des Regresses), nun selbst praktiziert. Er hat sich, um die nahe liegende Retourkutsche zu fahren, an dem heißen Boden philosophischer Reflexion nur einmal mehr selbst die Fußsohlen verbrannt.