Wissenschaftstheorie | 24.03.2009

Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aus: Aufklärung & Kritik 1/2009, S. 94-109

Velociraptor

"Das Bedrohungs- und Empörungspotenzial des Naturalismus scheint groß zu sein", bemerkt Sukopp (2006, p. 24) und plädiert für mehr Begriffshygiene, wenn über Naturalismus gesprochen wird. Vor allem der ontologische Naturalismus ist in einem Ausmaß in weltanschauliche Debatten verwickelt, wie keine andere philosophische These. Häufig wird er mit extremen Formen wie dem Empirismus, monistischen Physikalismus, Biologismus, Antimentalismus oder Szientismus gleichgesetzt, um ihn mit dem Ideologievorwurf zu konfrontieren. Dieser Strategie bedient sich auch der Münchner Jesuit Christian Kummer. In seinem Beitrag (Kummer 2008) verbreitet er die These, die Anstrengungen der AG Evolutionsbiologie im deutschen Biologenverband, den kreationistischen Angriffen auf die Evolutionstheorie eine stringente Argumentation entgegenzusetzen, diene in Wahrheit nur dazu, einen "Naturalismus mit Weltbildanspruch" zu lancieren, der "nicht bei seinen methodologischen Grenzen" stehen bleibe. Gottes Wirken werde "vorsätzlich aus dem Bereich der Realität" ausgeklammert, um dem Glauben die intellektuelle Relevanz abzusprechen, obgleich der ontologische Naturalismus selbst inkonsistent sei. Der Generalangriff gegen den Naturalismus erfordert eine Entgegnung, wobei es zunächst notwendig ist, den ontologischen Naturalismus zu charakterisieren: Was besagt er und weshalb ist er für die Naturwissenschaften so wichtig? Anschließend werden exemplarisch einige von Kummers Kritikpunkten einer philosophischen Analyse unterzogen. Was ist dran am Ideologievorwurf gegen den Naturalismus?

Die These des ontologischen Naturalismus

Ontologie (Metaphysik) ist die philosophische Disziplin, die sich mit dem Sein und Werden der Welt beschäftigt, also mit so grundlegenden Begriffen wie Ding, System, Eigenschaft, Emergenz, Ereignis, Prozess, Kausalität, Gesetz, Realität, Materie usw. (Bunge und Mahner 2004). Somit sind alle Aussagen über die Welt, die nicht Gegenstand der Einzelwissenschaften selbst sind, ontologischer Natur. Der Begriff Ontologie wird im traditionellen Sinne oft mit Religion, nutzloser Spekulation oder mit dem Geltungsanspruch, irrtumsfreie, letzte Wahrheiten über die Welt erlangen zu können, in Verbindung gebracht. Es gibt aber auch Ontologien, die sich von der Religion emanzipiert haben, die Fehlbarkeit allen Wissens anerkennen, kritisierbar sind und sich zu einem respektablen Zweig der akademischen Philosophie entwickelt haben, wie der Naturalismus und Materialismus.

Nach der These des ontologischen Naturalismus ist der Kosmos kausal strukturiert und in sich abgeschlossen, das heißt alle Phänomene können gesetzmäßig und auf der Basis weltimmanenter (natürlicher) Prinzipien und Mechanismen - also ohne Zuhilfenahme von Göttern, Geistern, unspezifischen Designern, Seelen als rein geistiges Substrat, Wundern, Prophezeiungen, Telepathie, Astrologie und sonstigen transzendenten Dingen - beschrieben und erklärt werden (Sukopp 2006, p. 280). Transzendent oder supranaturalistisch sind somit alle Instanzen, die nicht (notwendigerweise) an die kosmische, kausal strukturierte Ordnung gebunden sind, sie durchbrechen, überwinden oder beeinflussen können. Wer den ontologischen Naturalismus in einer schwachen Form vertritt, schließt die Existenz transzendenter Seins-Bereiche aber nicht kategorisch aus, sondern nimmt lediglich an, "dass das Universum in seinem empirisch, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten, besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirk-Faktoren erkannt werden kann" (Kanitscheider 2003, p. 33). Wir haben es demnach mit einem innerweltlichen Naturalismus zu tun, wonach das Verständnis der Natur nicht über sie hinausführt.

Nun ist dieser (schwache ontologische) Naturalismus ein essentielles Grundprinzip der Naturwissenschaften und somit auch die Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie. Denn die Wissenschaften sind an bestmöglicher Absicherung (Prüfung) ihrer Theorien sowie an mechanismischen Erklärungen interessiert. Überprüfbar sind jedoch nur Theorien, die kausal strukturierte, materielle Objekte zum Gegenstand haben, die sich gesetzmäßig verhalten und durch weltimmanente Prinzipien, das heißt durch Wechselwirkung mit anderen Dingen entstehen und sich entwickeln (Elementarteilchen oder deren Systeme). Übernatürliche Wesenheiten "entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden" (Mahner 2003, p. 138). Es ist also augenscheinlich, dass sich für das Wirken transzendenter Kräfte keine objektive Grenze angeben lässt.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass wir buchstäblich alles mit nur einer einzigen übernatürlichen Ursache erklären könnten. So könnte etwa das Wachstum der Bäume ebenso mithilfe der Einwirkung eines göttlichen Designers erklärt werden, wie der radioaktive Zerfall oder die Entstehung von Planetensystemen. Doch eine Theorie, die prinzipiell alles erklären kann, erklärt aus wissenschaftlicher Sicht gar nichts, zumal es sich bei den ihnen zugrunde liegenden Mechanismen und Zwängen um unbekannte und unerforschliche Faktoren handelt. Nur Theorien, die auf der Basis wohlbegründeter Mechanismen genau das erklären, was sie erklären sollen und eine Menge logisch möglicher Beobachtungen ausschließen, haben Erklärungskraft (Bunge und Mahner 2004). In den Augen derer, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ihre Theorien zu überprüfen und bislang unverstandene Phänomene einer differenzierten, innerwissenschaftlichen Erklärung zuzuführen, existiert also keine Alternative zum Naturalismus. Die Tatsache, dass die Naturwissenschaftler keine übernatürlichen und teleologischen Faktoren akzeptieren, ist schlichtweg Ausdruck methodologischer Notwendigkeit.

Wir sehen also, dass der Naturalist gute Gründe vorweisen kann, die seine Sichtweise rechtfertigen. Außerdem ist der Naturalismus in einer Weise, die wir noch zu erläutern haben, sehr wohl revidierbar. Das heißt, der Naturalist verteidigt sein Weltbild nicht a priori, sondern bleibt offen gegenüber Evidenzen, die eine Revision des Naturalismus erzwingen würden. Solange derartige Evidenzen nicht vorliegen, käme der Rückgriff auf Außerweltliches, Teleologisches und Esoterisches einer "intellektuellen Bankrotterklärung" gleich: "Sicher können und müssen wir nicht alles erklären; aber wenn wir erklären wollen, dann fordert der Naturalist nachdrücklich die Beschränkung auf natürliche, reale, materiell-energetische Strukturen" (Vollmer 1995, p. 38).