Ethik | 07.01.2013

Moral zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit

Darwin-Jahr Bild

 Nicht nur Werte und Normen ändern sich. Auch deren Verständnis, Einordnung, Fundierung oder Rechtfertigung tun es. Ein solcher Metawertewandel kann eine Gesellschaft transparenter, reflektierter und damit freier machen – allerdings nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Doch wie lassen sich moralische Werte diesseits von ontologischen Blütenträumen oder aber einer sozialen Willkür verstehen und begründen?

Diese Fragen diskutiert der Philosoph und Publizist Rüdiger Vaas, gbs-Beirat und im Komitee dieser Website, in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift UNIVERSITAS. Sie hat den Schwerpunkt „Wertewandel“ und behandelt auch andere Aspekte von Ethik, Moral, Kultur und Gesellschaft. 

Grob vereinfacht konkurrieren seit langem zwei Klassen von Moral-Begründungen. Der einen zufolge, Transzendentismus oder moralischer Realismus genannt, sind Werte nicht Teil der natürlichen Welt, sondern gleichsam jenseitig. Sie stammen entweder von übernatürlichen Wesen – zum Beispiel direkt oder indirekt von einem Gott, der sie schuf und offenbarte und Fehlverhalten vielleicht bestraft. Oder sie sind in ihrem Wesen autonom, gelten objektiv und lassen sich von der Vernunft erkennen oder erschließen. Dem anderen Extrem zufolge, dem moralischen Relativismus, werden Werte nicht gefunden, sondern erfunden. Sie sind eine menschliche, soziale Schöpfung, eine letztlich willkürliche Konvention (oder gar "Geschmackssache"), die räumlich und zeitlich wechselt, zwischen Gesellschaften, Schichten, Gruppen, Personen oder Situationen. 

Rüdiger Vaas sucht nach einem „Ort der Ethik in der natürlichen Welt“ – so auch der Untertitel seines Essays – und zeigt die Schwächen und Probleme beider Moral-Begründungen auf. Ethik und Moral bedürfen in einem naturalistischen Weltbild keiner transzendenten Werteordnung oder gar jenseitiger Entlohnungen und Strafen. Und sie sind auch nicht notwendig beliebig. Denn es kann sehr wohl versucht werden, einige intersubjektive und weithin verbindliche, einsichtige oder konsensfähige Werte und Normen zu formulieren sowie zu begründen. Es wäre also der Fehler des ausgeschlossenen Dritten, nur entweder den Transzendentismus oder den Relativismus für wahr zu halten. 

Zwar ist die Suche nach solchen Wegen zwischen der Skylla des Fundamentalismus und der Charybdis der Beliebigkeit schwierig, aber wichtig – nicht nur im akademischen Elfenbeinturm. Und es gibt solche Wege. Hierbei hilft auch ein Blick auf die Erkenntnisse der Soziobiologie, besonders auf die Evolution der Kooperation und des wechselseitigen Altruismus. Vaas diskutiert die Stärken und Schwächen einer „Evolutionären Ethik“ – einschließlich der Gefahr eines „naturalistischen Fehlschlusses“ vom Sein aufs Sollen. Es zeigt sich, dass zwischen Natur und Kultur kein Widerspruch besteht, sondern eine komplexe koevolutionäre Wechselwirkung. Moralisches Verhalten fiel nicht vom Himmel, sondern hat sich stammes- und kulturgeschichtlich als vorteilhaft erwiesen. Und für gewisse Normen lässt sich auch vernünftig argumentieren. Es gibt also Moral ohne Metaphysik – und eine rationale Rechtfertigung dafür.

Rüdiger Vaas: Metawertewandel – Moral zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit. UNIVERSITAS, Bd. 67, Nr. 798, S. 4-30 (12/2012).