Interview | 21.08.2010

Moral von unten

Wie viel Moral verträgt der Mensch?

In zwei Tagen (23. 08.10) erscheint das neue Buch des Biologen Franz Wuketits, "Wie viel Moral verträgt der Mensch?". Grund genug, ihm ein paar Fragen zu stellen und herauszufinden, was es damit auf sich an.

 

Evo-Magazin: Lieber Herr Wuketits, in Ihrem neuen Buch „Wie viel Moral verträgt der Mensch?“ wenden Sie sich gegen eine „Diktatur der Moral“. Inwiefern ist die Moral diktatorisch?

Franz Wuketits: Wenn man bedenkt, wie viele Menschen im Namen der Moral dubioser Ideologen unterdrückt, gefoltert oder gar getötet wurden (und werden), dann beantwortet sich die Frage eigentlich von selbst. Dazu kommt, dass man uns doch ständig den erhobenen Zeigefinger vor die Nase hält, um uns am guten Leben zu hindern. Mit „Arbeitsmoral“, „Sexualmoral“, „staatsbürgerlichen Pflichten“ usw. will man uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Viele der traditionellen Moralsysteme sind genussfeindlich und gehen an der elementaren Tatsache vorbei, dass der Mensch Lust gewinnen und Unlust vermeiden will.

 

Evo-Magazin: Finanzkrise, Doping-Skandale, Wissenschaftsbetrug, Kriege, Mord und Totschlag führen Sie unter anderem darauf zurück, dass wir mit zu viel Moral überfordert wären. Die meisten Kommentatoren sagen, dass zu wenig Moral unser Problem sei. Wie gelangen wir zu einem „realistischen Moralkodex“?

Franz Wuketits: Nicht alles führe ich auf eine moralische Überforderung zurück. Wenn aber Moral, wie gesagt, dazu dient, Menschen zu unterdrücken usw., dann haben wir in der Tat zu viel davon. Außerdem werden im Namen der Moral (auf der Basis darauf gegründeter Gesetze) viele sinnlose Aktivitäten betrieben, die wiederum nur Leid über viele Menschen bringen. Man denke an den „Drogenkrieg“, der weltweit in der Gesamtbilanz wohl mehr Opfer fordert als der Drogenkonsum selbst. Da hat man anscheinend jedes moralische Augenmaß verloren. Aber grundsätzlich: Ich denke, dass es nicht den Moralkodex gibt. Menschen handeln ihrer jeweiligen Lebenssituation gemäß. Aus unserer sozialen Evolution könnten wir aber gelernt haben, dass Kooperation und gegenseitige Hilfe ganz entscheidende, positive Antriebe unseres Lebens sind. Die gilt es daher zu fördern.

 

Evo-Magazin: Wie bringen wir die Menschen dazu, sich an einen solchen Kodex zu halten?

Franz Wuketits: Wer sind „wir“? Ich möchte ja keine „Moral von oben“, die anderen aufoktroyiert wird. Wer das Glück hat, unter einigermaßen günstigen sozialen Rahmenbedingungen aufzuwachsen, wird auch lernen, dass sich Kooperation und gegenseitige Hilfe – meiner Meinung nach die Grundpfeiler jedes realistischen Moralsystems – auszahlen; der wird also „Moral von unten“ lernen. Wer aus dem sozialen Leben Freude zu schöpfen vermag, wird automatisch bestimmte moralische Regeln entwickeln.

 

Evo-Magazin: Ihr Buch erinnert thematisch an „Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ von Michael Schmidt-Salomon. War das eine Inspirationsquelle?

Franz Wuketits: Ich hoffe, Michael Schmidt-Salomon ist einverstanden, wenn ich sage, dass wir uns gegenseitig inspirieren. Natürlich hat sein Buch (zusammen mit einigen anderen seiner Schriften) in mein Buch Eingang gefunden und war für meine Überlegungen unverzichtbar. Ich habe mein Buch aber bewusst etwas knapper gehalten; es kommt vielleicht etwas „radikaler“ daher. Es war ein Vorschlag des Verlags, dem Buch den Untertitel „Eine Provokation“ beizufügen.

 

Evo-Magazin: In „Darwins Kosmos“ sagen Sie, dass wir unserem Leben selbst einen Sinn geben müssen, weil es keinen höheren Sinn gibt. Müssen wir uns auch selbst eine Moral geben?

Franz Wuketits: Ja, Moral fiel nicht vom Himmel, sie ist eine menschliche Schöpfung, und wir müssen sehen, wie viel davon wir – unter den jeweiligen Rahmenbedingungen – vertragen.

 

Franz Wuketits ist Evolutionsbiologe, Beirat der Giordano Bruno Stiftung und er gehört dem „Darwin-Komitee“ an, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Philosophen, der sich mit der Popularisierung der Evolutionsbiologe befasst. Sein letztes Buch war die überarbeitete Neuausgabe von „Die Entdeckung des Verhaltens“, die einzige Geschichte der Verhaltensforschung. Sein aktuelles Buch „Wie viel Moral verträgt der Mensch“, befasst sich mit Moralphilosophie und Soziobiologie.

Die Fragen stellte Andreas Müller.