Rezension | 19.01.2011

Die Logik der Nicht-Logik

Darwin-Jahr Bild

Warum hängt nach über zweihundert Jahren Aufklärung noch immer die überwiegende Mehrheit der Menschen irgendeiner Religion an? Birgt Religiosität einen evolutionären Vorteil in sich, und wenn ja, welchen? Wo liegen die biologischen Wurzeln von Glauben und Religiosität? Was ist letztlich Substanz und Funktion von Religionen?

Wer Antworten auf solche und ähnliche Fragen sucht, dem sei die rund zweihundert Seiten umfassende Abhandlung des Biologen Dr. rer. nat. Andreas E. Kilian empfohlen. Wohl kaum ein Autor hat bisher diese Thematik mit einer solchen naturwissenschaftlichen Klarheit behandelt.
Sein konsequentes Herangehen an den allgemein als Kulturphänomen betrachteten Gegenstand Religion aus der Sicht der Evolutions- und Verhaltensbiologie mag zunächst verwundern, schafft aber von vornherein die im Umgang mit Religionen angebrachte Distanz und führt letztlich zu außerordentlich klaren, wissenschaftlich begründeten, unaufgeregten und wenig polemischen Aussagen über Begriffe wie Spiritualität, Religiosität, Religion, Religionsgemeinschaft, Kirche und dergleichen. Genau in dieser exakten naturwissenschaftlichen – und nicht etwa biologistischen – Definition der Begriffe besteht die Stärke des Buches.

Nach seiner Eingangsfeststellung, dass es bisher keine wissenschaftliche Definition des Phänomens Religion gibt, entlarvt Kilian dieses konsequent als clevere Argumentationsebene biologischer Egoisten, die sich die natürliche Spiritualität ihrer Gruppenmitglieder geschickt zunutze machen, um sich Vorteile zu erschleichen: „Religiöse Inhalte unterliegen … einer permanenten Auslese dessen, was den Gläubigen gerade noch verkauft werden kann und was nicht. Daher sind auch die meisten religiösen Glaubensinhalte in allen Religionen der Welt relativ ähnlich.“ (S. 129) „Die Evolution der Religionen war … wohl eher – nach den Aussagen ihrer Vertreter – eine Evolution der ‘Unwahrheit‘ und der Irrlehren.“ (S. 131)
Ausgehend von modernen Erkenntnissen der Evolutionsforschung und Verhaltensbiologie untersucht Kilian systematisch die biologische Substanz sowohl von Wissen und Denken als auch von natürlicher Spiritualität, Glauben, Religiosität und Religion. Er spürt deren evolutionären Ursprüngen und Funktionen nach, insbesondere ihren Einflüssen auf Moral und Ethik. Hinsichtlich letzterer kommt er unter anderem zu dem Schluss: „Was unserer Gesellschaft heute fehlt, ist eine universelle Ethik, die die Konfessionen überschreitet. Wir müssen uns für eine gemeinsame Zukunft auch an Gemeinsamkeiten orientieren. Wir brauchen Übereinkunft durch Vernunft, wo Religionen die Argumente für Spaltung liefern und egoistische Vorteilsnahmen demonstrieren.“ (S. 95)
Kilians Untersuchung mündet schließlich in seine biologische Definition des Phänomens Religion. Die Fairness gegenüber dem Autor gebietet selbstverständlich, diese hier nicht zu zitieren. Verkürzt sei nur angemerkt, dass es sich schlicht um eine Argumentationsebene zur Durchsetzung individueller Egoismen handelt. Interessant und hilfreich auch für weitere Untersuchungen zum Themenkreis dürfte seine begriffliche Abgrenzung der Religion von den verwandten Phänomenen Ideologie und Wahnvorstellung sein.

Bei aller Wissenschaftlichkeit und begrifflichen Exaktheit gelingt Kilian ein außerordentlich gut lesbarer, ja an einigen Stellen geradezu spannender Stil, so dass das Studium des Buches auch dem interessierten Nicht-Biologen einen profunden geistigen Genuss bietet. So führt er uns beispielsweise eine köstliche Analogie des Vaterunsers zum Bananen-Tauschhandel unter Schimpansen vor (vgl. S. 76f) und macht uns sogar die christliche Trinitätslehre verständlich, die gemeinhin selbst Theologen wohl nur den wenigsten ihrer mehr oder weniger gläubigen Schäfchen erklären können: Alpha- und Beta-Tier einer Gruppe herrschen im gleichen Geiste mit ein wenig verteilten Rollen (vgl. S. 156f).

Im abschließenden Kapitel leitet Kilian praktische Konsequenzen ab für den Umgang mit Gottesvorstellungen, Glauben und Religionen sowie für das Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Denn zu wissen, warum wir so sind wie wir sind, eröffnet uns die Chance, so zu werden wie wir sein könnten. Dabei verurteilt er keineswegs den Glauben an sich, solange dieser Privatangelegenheit bleibt; Religionen hingegen hält er zur Lösung gesellschaftlicher Probleme für denkbar ungeeignet, „weil sie selber mit die Probleme schaffen, die es zu lösen gilt.“ (S.190). Sein Fazit ist daher eine konsequente Absage an Autoritäten und Autoritätsgläubigkeit: „Wer das Beste für die Menschen will, schenkt ihnen Methoden zur Selbsterkenntnis. Wer Menschen versklaven will, macht sie von seiner Gnade abhängig.“ (S. 195)

Mit seinem umfangreichen Anmerkungsapparat (Quellen, Fußnoten, Glossar, weiterführende Literatur und Links) ist dieses Werk ausgezeichnet als Schlüssel zu weiterführenden Studien und Untersuchungen zum Thema nutzbar.

Und einen außerordentlich wertvollen Ratschlag erteilt uns Dr. Kilian: „Abgrenzungen führen zu Vorurteilen. Lernen Sie daher auch Menschen kennen und nicht nur Religionen.“ (S.198)

Eine Rezension von Rainer Buchheim zum Buch
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Andreas Kilian: Die Logik der Nicht-Logik
Wie Wissenschaft das Phänomen Religion heute biologisch definieren kann
Alibri Verlag Aschaffenburg 2010
ISBN 978-3-86569-062-3
230 Seiten, kartoniert, Euro 17.-