Interview | 18.04.2011

Interview mit Andreas Oppacher

Darwin-Jahr Bild

Andreas Oppacher im Interview mit dem Evomagazin zur Zukunft des Sozialstaates, zur Frage warum uns unsere Evolution aus den Händen gleitet und darüber, ob es ein angeborenes Wirtschaftsverhalten gibt.

Evomagazin: Was hat Sie dazu bewogen, einen Vergleich der Wirtschaftssysteme der skandinavischen Länder mit dem von Deutschland zu machen?

Andreas Oppacher:
Mich interessiert das Prinzip des starken Staates als Zukunftsmodell für das 21. Jahrhundert und die nordischen Länder kann man als letzte „lebende Beispiele“ dafür sehen.

Evomagazin:
In ihrem Buch Deutschland und das skandinavische Modell schneiden die nordischen Staaten fast in allen Bereichen besser ab als Deutschland. Was machen diese Länder anders als wir in Deutschland?

Andreas Oppacher:
Sie sind vor allem ihrem Sozialstaat treu geblieben, zum Nutzen der gesamten Gesellschaft. Dennoch haben in den vergangenen 20 Jahren auch in Skandinavien deutliche Aushöhlungsprozesse stattgefunden. So werden Kapitalerträge wie z.B. Zinseinkünfte in den meisten Ländern nur noch niedrig besteuert, ebenso die Gewinne der Unternehmen. Gleichzeitig ist die Mehrwertsteuer sehr hoch geworden.

Evomagazin:
Wen sehen Sie in der Verantwortung dafür, dass in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft?

Andreas Oppacher: Die Globalisierung und dabei vor allem der immer intensivere Welthandel führen seit Jahrzehnten dazu, dass die Nachfrage am Arbeitsmarkt nach einfachen Tätigkeiten in den Industriestaaten schwindet und der Druck auf die unteren Lohnsegmente wächst. Die richtige Strategie hätte darin bestanden, für noch mehr Umverteilung zu sorgen, vor allem zwischen hohen und niedrigen Einkommen. Spätestens mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders kam es aber zu einem echten Dammbruch in die Gegenrichtung. Schröder legte überzeugend nahe, dass er über das wirtschaftspolitische Verständnis eines Schuljungen verfügte und verfolgte als Sozialdemokrat einen beispiellosen und blindwütigen Sozialabbau bei gleichzeitigen massiven Steuererleichterungen für Gutverdiener und Unternehmen. Was für ein schwerer und langwieriger Schaden für Land und Partei!

Von da an war die Tür weit offen für weitere Radikalkuren und die nachfolgenden Bundesregierungen behielten diesen Kurs weitgehend bei. Kein Wunder also, wenn uns heute die Politik unter Helmut Kohl als harmlos erscheint, auch wenn damals schon mit der Demontage des Sozialstaates begonnen wurde. Nur war die Taktzahl eben noch nicht so hoch. Man darf übrigens gespannt sein, wie Frau Merkel und ihre Nachfolger es schaffen wollen, künftig noch weitere Sozialausgaben zu kürzen, um die Vorgaben der ökonomisch vollkommen widersinnigen Schuldenbremse zu erfüllen. Ich frage mich, was so schlimm daran sein soll, mal ein wenig politischen Mut aufzubringen und die Einnahmenseite des Staates besser auszustatten.

Evomagazin: In ihrem Buch zeigen sie auch, dass die skandinavischen Länder teils sehr hohe Steuern haben und zwar insgesamt viel höher als in Deutschland. Bei uns wird immer wieder betont hohe Steuern würden die angeblichen „Leistungsträger demotivieren und Reiche würden ihr Kapital ins Ausland schaffen. Warum akzeptieren dann Schweden, Norweger und Dänen diese hohen Steuern, während das größte Hobby der Deutschen die „Steuervermeidung“ zu sein scheint?

Andreas Oppacher: Aus historischen und kulturellen Gründen ist dort das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat weitaus positiver und die Zustimmung zur Aufrechterhaltung eines solidarischen Gemeinwesens ist nach wie vor hoch. Schließlich haben die Skandinavier auch über Jahrzehnte festgestellt, dass sie gut damit fahren. Sie haben gelernt, dass der Staat hohe Einnahmen braucht, um z.B. ihre ausgezeichneten Bildungssysteme aufrechterhalten zu können, die weitaus stärker als in Deutschland einen sozialen Aufstieg ermöglichen oder für Renten, die wirklich zum Leben ausreichen oder auch für eine Pflege im Alter, die sich auf einem ganz anderen Niveau bewegt als bei uns. Dafür ist vor allem eine hohe Besteuerung hoher Einkommen notwendig.

Aber Sie können sich ja mal selbst fragen: Angenommen, Sie verdienten sehr viel Geld: Wenn Sie gerne in Deutschland leben und hier verwurzelt sind, würden Sie nur deshalb ins Ausland ziehen, weil Ihnen dort noch mehr Geld zum Sparen übrig bleibt?

Evomagazin: In ihrem Buch beschreiben sie den Wohlstandstaat für alle als Ziel und dass die skandinavischen Länder aktuell diesem am nächsten kämen. Was sagen sie Leuten, die der Auffassung sind, dass ein Wohlstandstaat für alle eine Utopie sei?

Andreas Oppacher:
Da ist es hilfreich, mal die Augen aufzumachen. Die nordischen Länder sind doch die besten Beispiele dafür, dass es geht. Sie können aber auch auf unsere eigene Geschichte zurückblicken. Wir waren in vielerlei Hinsicht schon mal viel weiter als heute.

Evomagazin: Autoren wie Milton Friedman und Friedrich August von Hayek haben immer wieder betont, dass nur ein von staatlichen Eingriffen möglichst freier Markt für Wohlstand sorgen würde. Was halten Sie davon?

Andreas Oppacher:
Wir haben auch in Deutschland genügend von diesen neoliberalen Apokalyptikern, z.B. Hans-Werner Sinn. Was nicht zur eigenen Weltsicht passt, wird einfach ausgeblendet oder in einer möglichst plakativen Art und Weise heruntergeredet, auf dass hoffentlich niemand mehr nachfrägt. Dabei müsste auch dem Langsamsten unter uns spätestens in der aktuellen globalen Krise klargeworden sein, dass der freie Markt vor Fehlern nur so strotzt. Der Kapitalismus neigt nun mal sehr stark zur Selbstzerstörung. Er erzeugt Armut, schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltzerstörung und immer wiederkehrende Börsen-, Währungs- und Finanzmarktkrisen. Deshalb muss man die Marktwirtschaft streng regulieren.

Evomagazin:
Was könnte man denn in Deutschland ganz konkret tun, um wieder mehr Wohlstand zu schaffen? (Bitte nur drei bis vier Beispiele)

Andreas Oppacher: Vor allem müssen wir uns endlich von der mittlerweile krankhaften Fixierung auf den Außenhandel lösen. Die seit der Jahrtausendwende sprunghaft angestiegenen Exportüberschüsse sind nämlich ein mehr als mieser Deal für uns selbst, denn sie wurden zu großen Teilen durch eine in ganz Europa einzigartig schlechte Lohnentwicklung teuer erkauft. Unsere Exportmanie belastet außerdem die europäischen Nachbarländer – und nicht nur diese – schwer und gefährdet massiv den Fortbestand des Euro und sogar der Europäischen Union. Wenn sich dann einzelne Länder, wie Griechenland und Portugal, so tief verschuldet haben, dass sie Hilfen aus der Transferunion beantragen, bekommen sie ein unglaublich dämliches Sparkorsett übergestülpt, das jede bis dahin noch funktionierende Binnenkonjunktur zwangsläufig einbrechen lässt. Weil diese Länder weiterhin den Euro behalten und es somit keine Möglichkeit für sie zur Abwertung der Währung gibt, erlangen sie ihre verlorene Exportfähigkeit natürlich auch nicht wieder. Die Folgen heißen Stagnation bis Rezession, eine schnell wachsende Arbeitslosigkeit und Armut und, ganz wichtig: noch mehr Schulden. Dieser Umgang mit der so genannten europäischen Schuldenkrise ist meiner Meinung nach einer von vielen Anhaltspunkten dafür, dass sich die Europäische Union noch immer auf einem niedrigen Entwicklungsgrad befindet. Als hätten wir aus dem Ende der Weimarer Republik überhaupt nichts gelernt!

Was man den Menschen auch mal sagen sollte: Wenn die deutsche Volkswirtschaft weiterhin hauptsächlich über den Außenhandel wachsen will, dann brauchen wir in den nächsten Jahren Exportüberschüsse von 250, 300 und bald 400 Milliarden Euro. Über die Realisierbarkeit dessen und die theoretischen Folgen daraus brauche ich wohl nichts zu sagen. Wir müssen dringend gegensteuern und unser Augenmerk wieder auf das einzige richten, was für uns auf Dauer tragfähig ist: die Inlandsnachfrage. Damit aber der Binnenkonsum, der nun schon seit vielen Jahren brachliegt, wieder kontinuierlich wachsen kann, brauchen wir endlich wieder steigende Löhne und Renten und außerdem eine Sozialhilfe, die zum Leben ausreicht. Auch ein gesetzlicher, flächendeckender Mindestlohn von etwa 10 Euro ist längst überfällig. Doch gerade die Parteien, die sich entgegen der landläufigen Meinung durch eine besonders geringe Wirtschaftskompetenz und sehr wenig eigeninitiatives Denken auszeichnen, wie die CDU und die FDP, halten einen schützenden Mindeststandard für alle Arbeitnehmer nach wie vor für eine Art Teufelszeug. Und das obwohl es mittlerweile in fast allen europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt, sogar seit langer Zeit in Großbritannien und Irland und kein Land die Einführung nötiger hätte als wir.

Noch etwas: In den Medien wird immer so getan, als wäre die wachsende Armut nur aus ethischen Gründen heraus beklagenswert. Das stimmt aber nicht bzw. ist es nur die eine Seite der Medaille. Armut ist nicht nur buchstäblich ein Armutszeugnis für ein so reiches Land wie Deutschland, sondern wir können uns die Armut schlicht und ergreifend auch aus volkswirtschaftlicher Sicht überhaupt nicht leisten. Sie bringt nicht nur unnötiges menschliches Leid mit sich, sondern sie ist auch Gift für die Binnenkonjunktur. Die Menschen können eben nur so viel Geld ausgeben, wie sie zuvor einnehmen. Deshalb glaube ich an den starken Staat, der im Übrigen auch immer finanzierbar sein wird und sehe den ökonomischen Erfolg von Volkswirtschaften mit großen sozialen Unterschieden mit einem Ablaufdatum versehen.

Evomagazin: Wachstum sei dringend notwendig, um unseren „Wohlstand“ zu halten, das wird immer wieder von den meisten Ökonomen und Politikern betont. Doch ist mehr Wachstum eigentlich angesichts der immer schlimmeren Umweltfolgen eigentlich noch zeitgemäß und bringt uns der Drittfernseher und das Vierthandy im Haus tatsächlich mehr Lebensqualität?

Andreas Oppacher: Da fragen Sie was. Ich weiß, es ist nicht gerade populär, aber auch ich muss darauf bestehen, dass wir ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum brauchen. Der technische Fortschritt führt nun mal seit mehr als 200 Jahren dazu, dass wir mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr Waren und Dienstleistungen herstellen können und das mit rasender Geschwindigkeit. Man braucht noch nicht einmal eine Rezession, sondern es genügt schon eine wirtschaftliche Stagnation und die Arbeitslosenzahlen steigen rasant an. Denken Sie nur an die Schröder-Ära. Andererseits muss man zugeben, dass uns die Maschinen auch aus unserem Elend geholt haben.

Wir müssen es in Zukunft schaffen, anders zu wachsen und auf eine weitaus energie- und ressourcenschonendere Art des Wirtschaftens umzustellen. Das würde nebenbei auch den Druck auf die Arbeitsmärkte abmildern. Wir werden auch davon Abstand nehmen müssen, für immer und ewig unvorstellbar große Mengen von Waren um die ganze Welt zu schiffen und zu fliegen. Gleichzeitig wird sich uns die große globale Herausforderung und Verantwortung dieses Jahrhunderts immer deutlicher zeigen: Ein schnelles weiteres Anwachsen der Weltbevölkerung, verbunden mit einem stark steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln und Energie. Noch dazu verändert sich das Klima. Man könnte auch sagen, uns ist unsere eigene Evolution aus den Händen geglitten. Ich tröste mich manchmal selbst mit der Einsicht, dass wir Menschen noch nie gut darin waren, uns die eigene Zukunft vorzustellen und umso weniger, je weiter sie entfernt liegt.

Evomagazin:
Unser Magazin beschäftigt sich in erster Linie mit der Evolution des Menschen. Denken sie, dass es so etwas wie ein angeborenes Wirtschaftsverhalten gibt? Immerhin verweisen neoliberale Autoren gerne darauf, dass der Kapitalismus fast schon ein Naturgesetz sei.

Andreas Oppacher: Diese dünne These zu vertreten würde mir starke Bauchschmerzen bereiten. Vielleicht ist es uns Menschen auch gar nicht möglich, uns selbst und objektiv aus einer mehr oder weniger zoologischen Perspektive zu betrachten. Würden wir noch sagen können, was für uns selbst eine artgerechte Lebensweise ist?

Evomagazin:
Andreas Oppacher, wir danken Ihnen dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten.

Andreas Oppacher:
Sehr gerne