Moralphilosophie | 14.05.2010

Gut sein ohne Gott

Moral: Kein Himmelsgeschenk nötig

Warum sollten wir uns ethisch verhalten, wenn uns am Ende keine Gerechtigkeit erwartet? Wir brauchen Gott für die Moral, sagen die einen. Alle Werte sind relativ, sagen andere, nur die Produkte der Umstände, unter denen sie entstehen. Also können wir das Verhalten von Menschen aus einem anderen Kulturkreis nicht verurteilen.

Aber was, wenn es eine dritte Möglichkeit gibt? Eine Ethik ohne Gott und jenseits des Relativismus?

 

Überblick

Im ersten Teil dieser Artikelreihe geht es um die aktuelle Debatte über den „ethischen Realismus“, welche der Neurowissenschaftler, Philosoph und Religionskritiker Sam Harris („Das Ende des Glaubens“) durch seinen Vortrag bei TED ausgelöst hat.

Der zweite Teil bietet eine Einführung in die „Ziel-Theorie ethischer Werte“. Was so abstrakt und theoretisch klingt, ist nichts geringeres als der Versuch von Richard Carrier, die Ethik auf ein objektives Fundament zu stellen. Es handelt sich um eine Ethik für alle Menschen, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund.

Im dritten Teil sehen wir uns an, was dabei herauskommt, wenn man sich empirisch mit der Frage befasst, ob alles immer besser oder immer schlechter wird. Wie lange und glücklich leben Menschen in der modernen Gesellschaft? Sind die Auffassungen von einem guten Leben tatsächlich so unterschiedlich?

Der vierte Teil befasst sich schließlich mit dem neuen Buch von Sam Harris, „The Moral Landscape“, in dem er begründet, warum wir eine wissenschaftlich fundierte Ethik entwickeln müssen und wie das möglich ist.

 

Das Erdbeben

Sam Harris ist bekannt als einer der „Neuen Atheisten“, als scharfer Religionskritiker, der Bücher verfasste wie „Das Ende des Glaubens“ und „Brief an ein christliches Land“. In letzter Zeit wurde zumindest die Fachwelt auch auf seine neurowissenschaftlichen Arbeiten über Religiosität aufmerksam. Das Publikum erwartete gewohnte Kost von seinem Vortrag bei TED – eine internationale Konferenz, bei der namhafte Intellektuelle in achtzehnminütigen Vorträgen ihre aktuellen Projekte vorstellen.

Tatsächlich gab es auch ein paar strenge Worte zu hören in Richtung Islam. Sam Harris sprach darüber, wie grausam es ist, Frauen Säure ins Gesicht zu schütten. Applaus erschallte aus den Reihen der Zuhörer. In den Wochen nach dem Vortrag wurde dem akademischen Publikum jedoch allmählich klar, was die eigentliche Aussage von Harris gewesen ist: Wir können aus der Wissenschaft eine allgemeingültige Ethik ableiten. Für alle Menschen jeder Kultur. Werte sind nicht einfach relativ. Harris bezweifelt den Konsens von Intellektuellen, dass sich eine Ethik nicht objektiv begründen ließe – der „ethische Realismus“ ist auferstanden.

Als seine Aussage durchgesickert ist, erreichten Sam Harris tausende Protestschreiben von schockierten Akademikern, die darauf bestanden, es gäbe doch nur Meinungen über Ethik, kulturelle Konstrukte, subjektive Auslegungen. Diesmal kam die Kritik an Harris nicht von religiösen Dogmatikern, sondern von atheistischen Denkern und Wissenschaftlern. Auf drei Kritiken ist Harris repräsentativ eingegangen: Der Astrophysiker Sean Carroll und die Philosophen Massimo Pigliucci und Russel Blackford zweifeln am jüngsten Vorstoß des provokativen Denkers.