Evolution | 06.01.2009

Gruppenkonkurrenz und Gruppenselektion

Spektrum der Wissenschaft 01/09

In der aktuellen Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft, wo man den Warhol-Darwin von darwin-jahr.de auf dem Cover bewundern kann, findet sich ein Artikel der bekannten Evolutionsbiologen David Sloan Wilson und Edward O. Wilson mit dem Titel Evolution – Gruppe oder Individuum?. Die beiden argumentieren für die Gruppenselektion, die schon seit Jahrzehnten wiederbelebt wird, ohne bislang von den Toten auferstanden zu sein. Der Biophilosoph Prof. Dr. Eckart Voland bezieht Stellung zum Thema:

 

 

Gruppenkonkurrenz und Gruppenselektion

Die moderne Auffassung von der genzentrierten Wirkweise der biologischen Evolution steht in krassem Widerspruch zu Vorstellungen, wie sie zuvor in der Verhaltensforschung vorgeherrscht haben und wie man sie mit dem Schlagwort der „Gruppenselektion“ etikettiert hat. Man bemühte das Konzept der Gruppenselektion zur Erklärung von Phänomenen, die sich auf den ersten Blick einer „gen-egoistischen“ Interpretation widersetzen. Hierzu zählen beispielsweise gebremste Aggressivität im Rivalenkampf, die offensichtlich den Gegner schonen soll anstatt ihn zu töten und vor allem heldenhafte Formen von Altruismus, die zwar für die Gruppe nützlich sind, aber dem Altruisten möglicherweise das Leben kosten. Gruppenselektion führt notwendigerweise dazu, dass man gegebenenfalls seine Lebens- und Reproduktionsinteressen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellt, sich also wahrlich genetisch altruistisch verhält. In dieser Sicht legen Helden und Heilige eindrucksvoll Zeugnis von dem biologisch evolvierten Motiv der Förderung des Gemeinwohls ab. Weder theoretische Überlegungen noch empirische Befunde lassen es jedoch als wahrscheinlich erscheinen, dass Gruppenselektion jemals zu genetischem Altruismus geführt haben könnte. Wie könnte sich ein Erbmaterial, das seinen Träger zur reproduktiven Einschränkung zu Gunsten nichtverwandter Gruppenmitglieder motiviert, in der Population ausbreiten?

In der individualselektionistischen Sicht sind Gruppen und Arten letztlich Epiphänomene biologisch evolvierter individueller Lebens- und Reproduktionsinteressen und nicht etwa genuine Angriffsfläche und Modelliermasse der natürlichen Selektion. Gleichwohl beobachtet man soziale Situationen, die sich als Konkurrenz unter Gruppen deuten lassen und Mitglieder in diesen Gruppen, die ihr Verhalten gemeinschaftlichen Zielen widmen. Deshalb ist in der soziobiologischen Literatur der Begriff der „Gruppenselektion“ keineswegs verschwunden. Leider herrscht diesbezüglich eine heillose konzeptionelle und begriffliche Unordnung (Johnson et al. 2008, West et al. 2007), die unter einer nicht immer sprachlich sauberen Unterscheidung von Gruppenkonkurrenz und Gruppenselektion leidet. Theoretisch wichtig ist dieser Unterschied, weil gruppendienliche Strategien „gen-egoistisch“ aufgefasst werden können und nicht etwa zwangsläufig als Produkt von Gruppenselektion gedeutet werden müssen. Gruppenkonkurrenz ist eben nicht gleich Gruppenselektion, denn Gruppen haben keine Gene, die sie vererben könnten. Dies tun bekanntlich nur Individuen, und diese Individuen können aus „gen-egoistischen Gründen“ kooperieren, um ihre Gruppe zu stärken.

Allerdings gibt es soziale Situationen, in denen die Konflikte zwischen sozialen Gruppen dermaßen stark ausgeprägt sind, dass sie zu außergewöhnlicher Kooperation innerhalb der Gruppen motivieren. Wenn die Fitness eines Individuums ganz entscheidend vom Abschneiden seiner Gruppe in der Zwischengruppenkonkurrenz abhängt, während demgegenüber Konkurrenz innerhalb einer Gruppe nur wenig zu Fitnessunterschieden beiträgt, ist es zugegebenermaßen verführerisch, von Gruppenselektion zu sprechen. Diese Situationen sind allerdings selten und nur unter außergewöhnlichen ökologischen Situationen zu beobachten. Wo sie auftreten, führen sie allerdings zu überaus interessanten sozialen Konsequenzen. Die Evolution der Staaten bildenden Insekten („Eusozialität“) könnte vielleicht auf derartige Szenerien höchster Zwischengruppenkonkurrenz zurückzuführen sein, was E. O. Wilson (2005) dazu bringt, mit Bezug auf Insektenkolonien das ganz wesentlich auch von ihm selbst kritisierte Konzept der Gruppenselektion zu reanimieren. Allerdings setzt der revidierte Gruppenselektionsbegriff von E. O. Wilson Verwandtenselektion voraus (Foster et al. 2006) und ist damit nach wie vor dem „gen-egoistischen“ Paradigma verpflichtet. Folglich gibt E.O. Wilson die Idee der Evolution als genzentriertes Prinzip auch keineswegs auf:

"Das Gen ist noch immer die Haupteinheit der Selektion, aber das Selektionsziel im ursprünglichen Kolonieverhalten ist das höhere der beiden benachbarten Ebenen biologischer Organisation – von Superorganismen über Organismen, wie es auch der Fall ist für Organismen über Zellen und Gewebe" (2005: 4)

Die Sachlage ist unbestreitbar kompliziert, und Missverständnisse sind vorherzusehen, wenn man sich nicht die Mühe macht, zu studieren, was „Gruppenselektion“ von „Gruppenkonkurrenz“ unterscheidet.

Eckart Voland


Literatur

Foster, Kevin R.; Wenseleers, Tom; Ratnieks, Francis L. W. 2006: Kin selection is the key to altruism. Trends in Ecology and Evolution 21: 57-60

Johnson, Dominic D. P.; Price, Michael E.; Takezawa, Masanori 2008: Renaissance of the individual - Reciprocity, positive assortment, and the puzzle of human cooperation. pp. 331-352 in: Crawford, Charles; Krebs, Dennis (eds.): Foundations of Evolutionary Psychology. NN (Psychology Press)

West, S. A.; Griffin, A. S.; Gardner, A. 2007: Social semantics: Altruism, cooperation, mutualism, strong reciprocity and group selection. Journal of Evolutionary Biology 20: 415-432

Wilson, Edward O. 2005: Kin selection as the key to altruism: Its rise and fall. Social Research 72: 159-166 (dt. Übers.: AM)