Anthropologie | 12.11.2010

Christentum als Kultur

 

Es gibt kein Entkommen

Christen, aber auch Nicht-Christen, stecken tief in christlichen kulturellen Gewässern und wie Fische nehmen sie das Wasser, in dem sie schwimmen, als selbstverständlich an.

Man nehme nur christliche Redewendungen, Ideen und Begriffe, die auch Atheisten gebrauchen: Der Garten Eden, David gegen Goliath, jeder hat sein Kreuz zu tragen, Schwerter zu Pflugscharen, Wolf im Schafskostüm, verlorene Schafe, Früchte des Zorns, der werfe den ersten Stein, und so weiter. Wer sich für christliche Meme interessiert und wie sie unser Leben beeinflussen, dem sei das Buch Kirche im Kopf von Carsten Frerk und Michael Schmidt-Salomon empfohlen. Aber laufen Sie nicht davon, denn es kommt noch mehr Schleichwerbung.

Religion kann ebenso die Bedingungen von Ehe, Sexualität, Kinderaufzucht und familiäre Rollen bestimmen. Der Einfluss des Christentums hat in diesem Bereich in Deutschland abgenommen, zum Beispiel ist Homosexualität jetzt legal und Kinder werden nur noch von vielen Evangelikalen begeistert geschlagen. Dass etwas christlich ist, heißt aber nicht per se, dass es schlecht sein muss. Auch das wäre ein Denkfehler.

Einige christliche Vorstellungen könnte man aus philosophischen Gründen verteidigen, wie die Ehe (sie macht glücklich) und Monogamie (Polygamie könnte zur Unterdrückung von Frauen führen wie in der islamischen Welt) und andere nicht, wie etwa das Schlagen von Kindern (es erhöht die Wahrscheinlichkeit für kriminelles Verhalten und für ein Verlangen nach dem Schlagen von Kindern). Aber dafür müsste man sie erst einmal hinterfragen – und zunächst auf die Idee kommen, dass man so etwas überhaupt hinterfragen kann. Zum Beispiel lässt sich die christliche Logik, die gegen Abtreibung angeführt wird, auch gegen Empfängnis anführen (Empfängnis ist Mord), aber eine solche Argumentation steht außerhalb des christlichen konzeptionellen Rahmens, weshalb dies kaum jemand in christlichen Reihen versteht.

Schließlich haben Religionen einen Einfluss auf die Gesetzgebung, siehe hierzulande Bioethik (zum Beispiel die aus philosophischer Sicht absonderliche Regelung der Präimplantationsdiagnostik), die Förderung der Kirchen mit Steuergeldern, die staatliche Finanzierung von Kirchentagen und allerlei Dinge, die zu tun absurd wären – es sei denn wir leben in einer christlichen Kultur, die noch nicht hinreichend in der Lage ist, ihren eigenen konzeptionellen Rahmen zu übertreten und sich selbst zu hinterfragen.

Schließlich denke man an religiöse Kunst von Johann Sebastian Bach über Raffael bis zur neuesten Ikonen-Ausstellung des örtlichen Bischofs. Auch Filme sind christlich beeinflusst wie The Matrix mit seinem Erlöser Neo oder I am Legend, der überläuft mit christlichen Bezügen.

Religionen versuchen, das Bildungssystem zu infiltrieren, um sich über die Köpfe der Kinder fortzupflanzen. Gelingt ihnen das nicht, versuchen sie es mit Abschottung. Der Plan der „Christian Exodus“-Bewegung lautete zum Beispiel, den US-Bundesstaat South Carolina mit Anhängern der Bewegung zu infiltrieren. Dann wollten die Exodus-Leute den Staat von den USA abtrennen und eine christliche Theokratie darin etablieren. Inzwischen begnügen sie sich mit dem Aufbau von einer vernetzten Parallelgesellschaft, was auch einige andere christliche Bewegungen erfolgreich tun.

Unser Kalender und unsere Feiertage sind christlich oder überwiegend christlich bestimmt. So auch das vorherrschende Bestattungsritual, die Namen von Straßen, Städten, Gebäuden und Orten. Wer in einem christlich geprägten Land lebt, der entkommt dem Christentum nicht.