Anthropologie | 12.11.2010

Christentum als Kultur

 

Selbsterhaltung: Reform und Rückzug

Eine Strategie, wie sich das Christentum selbst erhält, ist die Reform: Die Religion wird für eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zielgruppe neu erfunden. In den USA gebrauchen evangelikale Kirchen zum Teil die Methoden von Marktforschern, um ihre jeweilige Zielgruppe zu erreichen, was die Journalistin Lauren Sandler in ihrem Buch Righteous. Dispatches from the Evangelical Youth Movement aufzeigt. Ultrakonservative Kirchen für Punks und Skater sind dort inzwischen weit verbreitet.

Laut Jan Fleischhauer ist ein weiteres Beispiel für reformiertes Christentum die vorherrschende linke Mainstreamkultur, obwohl sie sich als Gegenbewegung versteht: Ein „wahrer Linker“ (erst recht ein wahrer Schotte) geht nicht zum McDonald's (Nahrungstabus), er erinnert sich regelmäßig an den Holocaust (Rituale), kann aber Israel nicht leiden (Antisemitismus), er will anderen durch Gender-Mainstreaming seine Geschlechtervorstellungen aufzwingen (Parallele zum Patriarchalismus), er will die Schöpfung bewahren, indem er gegen Gentechnik ankämpft und er hält seine politischen Gegner für Diener einer finsteren Macht namens „Faschismus“ (Tribalismus, christliche Metaphysik).

Richard Webster belegt auf 500 Seiten in Why Freud was Wrong, inwiefern auch die Psychoanalyse nur eine schein-säkulare Wiedergeburt des Christentums ist. Zum Beispiel ähnelt eine Stunde auf der Couch des Seelenklempners dem katholischen Beichtritual. Wie Bischöfe sind auch Psychoanalytiker vom Sex (oder dessen Vermeidung) besessen und sie schreiben ihm eine gewaltige Macht zu.

Neben der Reform gibt es eine zweite Strategie, wie das Christentum überleben kann: Den Rückzug: Zunehmend viele Christen leben in fundamentalistischen Gemeinschaften wie die Amisch, wie einige Pfingstgemeinden, die „Zwölf Stämme“, die „Gemeinde für Christus“ und wie die Linken in der Hafenstraße in Hamburg.