Begriffserklärung | 03.05.2009

Charles Darwins "Kampf ums Dasein": Was der Evolutionsforscher wirklich sagen wollte

Charles Darwin

Im laufenden Darwin-Jahr hört und liest man in verschiedene Medien immer wieder vom "Kampf ums Dasein". Selbst das renommierte Wissenschaftsmagazin Nature hat in seinem Geburtstags-Editorial vom 12. Februar 2009 den Begriff "Darwins fiercely competitive world" verwendet und somit von einer "streng auf Konkurrenz um begrenzte Ressourcen ausgerichteten Darwinschen Welt" berichtet.

In einem biologiehistorischen Correspondence-Artikel vom 23. April 2009 wird diese einseitige Interpretation von Darwins Schlüsselbegriff korrigiert.

Charles Darwins erster Übersetzer, der deutsche Paläontologe Heinrich Georg Bronn (1800 – 1862), übertrug den metaphorischen Begriff "struggle for life or existence" in "Kampf ums Dasein". Obwohl Darwin in seinem Artenbuch (On the Origin of Species, 1859) auch Pflanzen berücksichtigt hat und den "Daseinswettbewerb" anhand dieser nicht zum Kampf fähigen sessilen Lebewesen erörterte, hat sich die Bronn'sche Fehlübersetzung bis heute erhalten. In einem bisher nicht zugänglichen Brief, den Darwin am 29. März 1869 dem deutschen Physiologen Wilhelm T. Preyer (1841 – 1897) geschrieben hat, lieferte der britische Naturforscher eine exakte Definition: "Der deutsche Begriff Kampf usw. entspricht nicht meiner Idee. Die Worte 'struggle for existence' drücken, so denke ich, exakt aus, was 'concurrency' besagt".

Was bedeutet der alt-englische Ausdruck "concurrency"? Einem britischen Lexikon aus dem Jahr 1893 kann entnommen werden, dass der Begriff bereits damals eine Doppel-Bedeutung hatte: 1. Kompetition, Rivalität und 2. Kooperation, Übereinstimmung. Im modernen Englisch hat Darwins Ausdruck "concurrency" (sein Synonym für "Daseinswettbewerb") zwei gegenteilige Bedeutungen: Kompetition und Kooperation. Dieser Doppel-Sinn kann auch aus einigen Sätzen in Darwins Artenbuch abgeleitet werden – dort beschreibt er den "Daseinswettbewerb" in Bezug zum Hinterlassen von Nachkommen.

Aus der Doppel-Definition von 1869 folgt, dass nach-Darwinsche Entdeckungen, wie z. B. der Altruismus in Tierpopulationen oder symbiontische Interaktionen von Organismen, Zellen oder Organellen – Konzepte, die integraler Bestandteil unserer modernen synthetischen Evolutionstheorie sind – nicht im Widerspruch zu Darwins Schlüsselbegriff stehen, den der Philosoph Herbert Spencer (1820 – 1903) später als "survival of the fittest" umschrieben hat. Setzen wir den Begriff "fitness" mit "Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg" gleich, so wird die zweifache Bedeutung von Darwins Wort "struggle" (sensu concurrency) unmittelbar deutlich.

Ulrich Kutschera

 

Originalpublikation:
U. Kutschera: Struggle to translate Darwin's view of concurrency. Nature, Vol. 458, S. 967, 23. April 2009.