Hirnforschung | 05.08.2010

Aufgeputschte Gehirne

 

Materialschlachten und sozialer Druck

Tour de Dope

Problematischer ist der gesellschaftliche Druck oder gar Zwang – der zwar nicht gegen die Methoden als solche spricht, aber doch deren Auswirkungen und den freien Umgang mit ihnen. Problematisch ist auch der Kostenfaktor "freiwillig" in Kauf genommener Nebenwirkungen: Warum soll die Gesellschaft beispielsweise in Form von Krankenkassen- oder Sozialhilfe-Beiträgen für diejenigen aufkommen, die sich (und das womöglich, um sich Konkurrenzvorteile zu verschaffen) das Gehirn durch Denkverstärker ruiniert haben?

Es ist durchaus zu fragen, wie lange in der globalisierten Wettrüstung die Beschränkungen der Biologie noch akzeptiert werden. Warum sollten, wenn die großen Geschäftemacher das Sagen haben, die Gehirne unangetastet bleiben, wenn es die Muskeln im Sport schon lange nicht mehr sind?

Man denke nur an das Beispiel Tour de France, wo sich die Pedaleure einerseits regelmäßig über die Doping-Verdächtigungen echauffieren und in überspannten Aufgeregtheiten gegen die Ermittlungen protestieren, die ihnen, wenn sie wirklich "clean" wären, ja nur nützen könnten. Anstatt sich in Streik-Posen zu ergehen, könnten die Sportsgeister flott voranfahren, ihren pharmazeutischen Nachteil endlich einmal kompensieren und die Tour vielleicht sogar gewinnen. Wäre man an ehrlicher Leistung und nicht nur an Zirkus, Profitgier und Fassadenrealität interessiert, hätte man der Tour de Farce längst Stillstand verordnet. Alternativ ließe sich eine Tour de Force veranstalten – durch die Legalisierung aller Dopingmittel. Dann hätte die Brot-und-Spiele-Mentalität endlich einen modernen Gladiatorenkampf mit pharmazeutischen Keulen und allen Raffinessen medizinischer Technokratie; der Doping-Industrie widerführe die Gerechtigkeit, mit Hilfe ihrer in vorausradelndem Gehorsam tort(o)urierender Versuchskaninchen auch einmal ins Rampenlicht der Reklame zu rücken; und die Leibesertüchtigung (in) der Leistungsidolatrie-Gesellschaft würde sich endgültig als wild und Selbstzweck gewordene Materialschlacht um ein paar lächerliche Zahlen entlarven.

Und was dem Sport profitlich ist, kann dem Hirnjogging nur Vorbild sein: Was die Party-Generation mit Kokain, AMPH und Ecstasy vorlebt, der ekstatische Amüsierleistungswahn bis der Arzt kommt, wäre für die weltweiten Brainpools der Aktienmakler, Vorstandsvorsitzenden und Finanzjongleure doch Motivation genug, den Gewinn weiter zu steigern. Nur der Hirnschlag kann sie noch aufhalten. Gegen das Abschlaffen von Body, Brain und Börsenkursen ein paar Pillen geschluckt, und es lassen sich trefflich weiter wohlfeile Geschäfte machen oder Maßnahmen ersinnen, die Ameisenkohorten der Angestellten noch effizienter auszuquetschen.

Wen interessiert dann noch, was der Publizist Dirk Kurbjuweit bereits 1996 in der Wochenzeitung Die Zeit fragte: "Und was wird aus den Querköpfen, Langschläfern, Widerborstigen, Lebenskünstlern, Langsamdenkern, aus jenen Gegenmodellen zum McKinsey-Menschen ...? Braucht man die nicht?"

 

Das Buch im DenkladenDer Wissenschaftsphilosoph und Biologe Rüdiger Vaas, gbs-Beirat und im Komitee dieser Website, ist Redakteur bei bild der wissenschaft und Verfasser zahlreicher Publikationen zur Hirnforschung.

Sein Buch Schöne neue Neuro-Welt. Die Zukunft des Gehirns erschien im Hirzel-Verlag und kann u.a. hier im Denkladen erworben werden. Rezensionen beispielsweise hier, hier und hier.

Fotos (exklusive Buchcover): morguefile.com