Hirnforschung | 05.08.2010
Einzelinteressen versus Gemeinwohl
Es flammt hier also die alte Diskussion zwischen den Paternalisten auf, die aus wohlmeinenden Gründen die Menschen vor sich selbst und vielleicht übermächtigem Unbill schützen wollen, den Kommunitaristen, die die Einzelinteressen einem Gemeinwohl unterordnen wollen, und den Libertaristen, die alle Entscheidungen den Individuen zugestehen möchten, aber ihnen dann auch die ganze Verantwortung zuschieben wollen.
So oder so werden im Neuro-Zeitalter freilich Menschen auf der Strecke bleiben und Freiheiten beschränkt werden – die Frage ist nur, wie sich die individuellen und gesellschaftlichen Nachteile minimieren lassen. Bei der Kontrover
se um die Legalisierung und Freigabe von Drogen werden solche Diskussionen ja bereits seit Jahrzehnten geführt. (In liberaleren Ländern sind keineswegs alle Menschen zugedröhnt, aber leicht zugängliche Drogen verleiten auch schneller und häufiger zum Missbrauch – abgesehen davon, dass sie ja aus guten Gründen auch prinzipiell abgelehnt werden können.)
Muss also künftig eine Neuropolizei her – oder zumindest eine Art Führerschein zum Gebrauch (beziehungsweise gegen den Missbrauch) des eigenen Gehirns? Und wie sollen beziehungsweise können Menschen von neuronalen Manipulationen geschützt werden – sei es der Werbewirtschaft, der Geheimpolizei oder einer Art Neuroterrorismus?
Gerechtigkeitsfragen und Natürlichkeit
Die Einnahme von Gehirn-Dopingmitteln ist freilich nicht einfach nur Privatsache. Sie könnte ein gesellschaftliches kognitives Wettrüsten zur Folge haben mit dem Ergebnis, dass jene, die "clean" bleiben, in Leistungs- und Eignungstests schlechter abschneiden und auf dem Arbeitsmarkt das Nachsehen haben. Der erst subtile, dann immer stärker auf die Individuen ausgeübte soziale Druck könnte ganze Hirngenerationen in die Pharma-Falle treiben. Und vielleicht fordern Firmen sogar eines Tages, dass ihre Angestellten zwecks Effektivitätssteigerung regelmäßig Mind Enhancer schlucken – die Mitarbeiter-Ausbeutung bekommt dann eine ganz neue Dimension. Zwang und Fairness sind also Aspekte, die hier auch ethische Fragen aufwerfen.
Sind Dissertationen, die unter dem Einfluss von Denk-Dopingmitteln verfasst werden, anders zu bewerteten als solche von Wissenschaftlern, die allenfalls ihre Espresso-Maschine melken? Und sollten Studenten vor ihren Prüfungen künftig zum Urintest geschickt werden, ähnlich wie es beim Hochleistungssport der Fall ist? "In jenen Bereichen, in denen hervorragende Leistungen bislang nur durch Disziplin und Anstrengung zu erringen waren, mutet es ‚betrügerisch‘ oder ‚billig‘ an, wenn diese Erfolge mit Hilfe von Medikamenten, genetischer Manipulation oder implantierten Geräten erzielt werden", ist beispielsweise der Moralphilosoph Leon R. Kass von der University of Chicago überzeugt.
Allerdings hängt die Beurteilung, ob Doping unfair ist oder nicht, auch vom Zugang zum jeweiligen Mittel ab. Das
s jemand Koffein zu sich nimmt, um sich möglicherweise Vorteile in einer Prüfung zu verschaffen, wird nicht kritisiert. Angenommen, ein kognitiver Enhancer wie Ritalin wäre so frei verfügbar wie Kaffee, dann würde es womöglich auch kaum jemand mehr als ungerecht empfinden, wenn seine Konkurrenten es schluckten.
Der Boethiker Arthur L. Caplan von der University of Pennsylvania in Philadelphia befürwortet sogar eine Gehirnverbesserung für alle. "Wäre es schlecht, wenn beispielsweise ein noch fiktiver Gehirn-Chip im Hippocampus uns dazu befähigte, innerhalb von Minuten Französisch zu lernen oder Literatur im Expresstempo zu lesen? Sollten wir ein Implantat verbieten, das die Hirnentwicklung Neugeborener fördert? Wenn wir durch Verändern des Gehirns mehr leisten oder erreichen könnten als unsere Eltern, mehr als sie vermögen – wäre ein solcher Eingriff tatsächlich offenkundig unmoralisch? Ich sehe schwerlich etwas Falsches an dem Versuch, das Beste aus unseren grauen Zellen herauszuholen."
Freilich ist Caplan nicht so naiv, die gesellschaftlichen Probleme zu übersehen, hält sie aber für anderweitig bekämpfbar und reglementierbar. So wird durch Hirn-Doping sich
erlich die Chancengleichheit der Menschen gefährdet – aber zum einen ist das auch anderweitig der Fall (finanziell besser gestellte Menschen können etwa bessere Schulen und Zusatzförderungen erhalten und eine wirksamere medizinische Versorgung), zum anderen muss versucht werden, die ungerechte Ungleichheit generell zu beseitigen. Und die besteht ja schon von Natur aus. Wenn Gehirn-Doping ein Betrug wäre, dann ist auch die Natur ein Betrüger, weil sie die einen stärker als die anderen bevorzugt.
Der Vorwurf der "Unnatürlichkeit" ist ebenfalls unangebracht, denn das gälte dann auch für Brillen und Kontaktlinsen, Insulin gegen Diabetes, künstliche Gelenke und Herzklappen, ja Flugzeuge, elektrischen Strom und Haarefärben.