Debatte | 10.06.2011

Annexion durch Wortwahl


3.1 Definitionsvorschläge rund um den Glauben

Fangen wir einfach mal an, unsere oben erwähnte hypothetische Streitsituation zu analysieren.

Das Glauben: das Glauben ist eine Vorstufe im Erkenntnisgewinn. Jeder Mensch muss glauben bevor er durch Erfahrung und/oder Logik die Fakten und die Gesetzmäßigkeiten für richtig erkennen und als Wissen abspeichern kann. Diese Art von Glauben ist eine Spekulation bei unvollständiger Datenlage oder fehlenden Wissens um die gesetzmäßigen Zusammenhänge. Als Erwartungen unterliegen sie gewissen Wahrscheinlichkeiten aufgrund bisheriger Erfahrungen. Das Glauben ist eine natürliche und angeborene Arbeits- und Vorgehensweise unseres Gehirns beim Denken.

Der Glauben: Der Glauben ist eine Annahme, die ohne Bezug zur Realität getroffen wird und nicht empirisch oder logisch überprüft werden kann. Beispiele hierfür sind Vorstellungen über das Jenseits, das Paradies, die Hölle sowie Beschreibungen über das Aussehen unserer Götter. Der Glauben ist keine Vorgehensweise unseres Gehirns, sondern das Ergebnis einer kreativen Phantasie, die wir ungeprüft für einen Teil der Realität halten, und nicht überprüfen können oder wollen.

Lassen sie sich also nicht einreden, dass auch Wissenschaftler „nur“ glauben. Nennen wir es lieber begründet spekulieren.
Der nächste Begriff ist die Religiosität. Sie wird gerne als Produkt der Evolution angesehen. Durch die Verwandtschaft im Wortstamm wird hiermit auch ungerechtfertigterweise suggeriert, dass auch Religionen biologische Ursprünge haben. Damit wird versucht, eine Art natürlicher Existenzberechtigung für Religionen und Kirchen abzuleiten. Um diesen gordischen Knoten zu zerschlagen, müssen zunächst ein paar Begriffe geklärt werden.

Anpassungen, biologisch und kulturell: Evolution basiert auf Individuen. Es sind Individuen, die ihre Gene mit der Fortpflanzung in die nächste Generation schicken, und es sind Individuen, die durch die Umwelt und die Artgenossen selektiert werden. Auch biologische Anpassungen – in der Biologie spricht man von Adaptionen – werden durch Gene vererbt, kommen nur individuell zur Ausprägung und werden durch die jeweils aktuellen Umweltbedingungen selektiert. Sie werden vertikal transferiert, während kulturelle Anpassungen durch Lernen horizontal, also zwischen Individuen, übertragen werden. Genauso, wie eine kulturell vererbte Sprache nur auf der biologischen Fähigkeit hierzu basieren kann, muss jede menschliche Errungenschaft, die aus der Evolution hervorgegangen sein soll, also auf den Eigenschaften und/oder Fähigkeiten der einzelnen Träger-Individuen basieren.

Sehen wir uns an, ob Religiosität zu den biologisch vererbbaren Fähigkeiten gehören kann.

Imaginalität:
Unser Gehirn kommt nicht als leeres Blatt auf diese Welt, sondern verfügt über ein genetisch ererbtes Vorwissen, wie unsere Umwelt zu interpretieren ist und wie wir uns ihr am besten durch Lernen anpassen können. Hierzu gehören auch neurologische „Software-Programme“, die in definierten Lebensabschnitten anspringen und uns bestimmte Erfahrungen suchen und machen lassen. Begleitet werden diese Zeiträume der Entwicklung auch durch Ängste und Explorationsphasen. Erinnern wir uns an die „Geister“ unter dem Bett. Hier sollten wir Verhalten lernen, ohne in der Realität auf die Auslöser dieser Ängste zu stoßen. Unser „Software“ bietet uns hier „Platzhalter“ an, die wir später als „Geister“ bezeichnen. In Wirklichkeit haben wir nie etwas gesehen. Wir spielen die Situationen in unserer Phantasie durch, weil ein erster Kontakt mit Raubtieren tödlich wäre und wir so nichts lernen könnten. Andere Programme lassen uns nach unser Stellung in der Geburtsfamilie, in der Umwelt und unter unseren Artgenossen suchen. Wir müssen unsere Position in einer komplexen Umwelt individuell erst suchen und lernen. Da wir aber über Jahrzehnte lernen und erwachsen werden, geben uns die „Software-Programme“ einen vorläufigen Rahmen mit, der mit unseren weiteren realen Erfahrungen wachsen kann. Die Ergebnisse dieser Lernprozesse bezeichnen wir zu jeder Zeit als unseren Sinn, Halt und die Ordnung, in der wir uns wohlfühlen. Die gefühlte korrekte Einjustierung gibt uns Mut, Vertrauen und eventuell Trost. Wir sind aber in der Lage durch Lernen diesen vorübergehenden Rahmen zu erweitern.

Der Begriff Imaginalität beschreibt das, was die „Softwareprogramme“ uns vorschlagen: ein Denken in Bildern und Vorstellungen; mit Bildern, die versuchen die Realität zu beschreiben, aber nicht die Realität sind; und Gefühlen, die zu Bildern und Vorstellungen werden können; sowie einer Tendenz zum Wunschdenken. Imaginalität ist die biologische Fähigkeit sich als lernfähiges Individuum durch angeborene, neuronale „Software-Programme“ optimal an seine hochkomplexe individuelle Umwelt anzupassen und sich im Verhalten einzujustieren.

Spiritualität: Spiritualität basiert auf den „Software-Programmen“ der Imaginalität. Sie ist die individuelle Ausprägung der biologischen Fähigkeit Imaginalität. Wir fühlen aber nicht nur das positive Gefühl der Erhabenheit der Natur, die Ergriffenheit, wenn wir uns richtig justiert haben. Wir neigen in unserer individuellen Suche nach Ursache-Wirkungs-Mechanismen in der Umwelt und in unsere Gruppe von Artgenossen zu einer Überinterpretation. Wir fragen nicht nur, was hinter den nächsten Wald existiert, sondern auch, welchen Sinn diese Konstellation der Sterne hinter dem Horizont auf uns hat. Wir suchen nach dem aller ersten Anfang aller Zeit und interpretieren einen Schöpfer als mögliche Antwort hinein. Wir fragen nach der Auswirkung unseres Handelns in der Zukunft und fragen damit auch nach unserem Sinn, sowie dem Sinn der ganzen Welt. Wir suchen weiter bis zum Tag des jüngsten Gerichtes weil sich unsere „Software“ nicht mit ihrem eigenen Tod zufriedengeben kann. Spiritualität ist die individuelle ich-bezogene Überinterpretation einer noch nicht ganz abgeschlossenen Einjustierung in die Umwelt mit Hilfe der Imaginalität.

Es ist selbstredend, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens spirituelle Phasen haben und erst durch Lebenserfahrung sowie durch logisches Denken den vorübergehenden Rahmen der Imaginalität und die Überinterpretation der Datenlage in ihrer Spiritualität erkennen.
 
Religion: Religion ist nicht individuell, sondern basiert auf der Absprache und Tradierung von Glaubensinhalten, die der Spiritualität Einzelner entstammen. Sie ist eine Mischung aus einem Konzept und den Funktionen, die der Einzelne daraus für sich entnehmen kann. Sie ist damit eine Argumentationsebene, um sich seine Wünsche (Egoismen) erfüllen zu können, sonst würde sie nicht akzeptiert, tradiert sowie mit und gegen andere verteidigt werden. Sie lebt davon, dass ihr imaginäres Alphatier oder ihre Mächte und Kräfte nicht hinterfragbar und nicht logisch sind, sonst wäre es mit dem Argumentieren für seine Vorteile bald zu Ende. Deus vult ist ein Universal-Totschlagargument.

Religion ist also die durch ego-zentrierte, neuronale Module hervorgerufene Erschaffung, individuelle Bereitstellung und tradierte Aufrechterhaltung einer nicht-logischen und nicht-überprüfbaren Argumentationsebene, um seine individuellen Egoismen mit und gegen seine Gruppenmitglieder rechtfertigen, durchsetzen und befriedigen zu können.

Religiosität: Während die Spiritualität das individuelle Erleben repräsentiert, spiegelt Religiosität den Wunsch wider, seiner Spiritualität Ausdruck zu verleihen. Durch Gestik, Mimik, Rituale und Kulte werden die Gefühle zum Ausdruck gebracht, initiiert und/oder ausgelebt. Und da in der Biologie Informationen immer auch Manipulationen sind, dient Religiosität auch der Synchronisation von Verhalten. Zur Information und Manipulation ist selbstverständlich ein Verhalten notwendig, welches von den Artgenossen als solches erkannt werden kann und daher weltweit universell wieder zu finden ist. Religiosität ist also das Ausleben seiner Spiritualität durch Informieren und Manipulieren von Artgenossen durch kulturell tradierte Handlungen.

Religiös: Tätigkeiten oder Verhalten, mit denen eine Person ihre Religiosität (Religiosität = kulturell kommunizierte Spiritualität = kulturell kommunizierte Fehlinterpretation seiner individuellen Einjustierung in seine Umwelt im Kontext der Imaginalität) zum Ausdruck bringt.

So, nun zurück zur Ausgangsfrage: Können sich Religion und Religiosität aus der Evolution heraus erklären und sich als natürlich gegeben rechtfertigen? Religiosität setzt sich aus zwei biologischen Komponenten zusammen: Der individuellen Fähigkeit Imaginalität, die durch individuelle Überinterpretation zur Spiritualität wird, sowie der Fähigkeit zur Kommunikation, die hier allerdings kulturell spezifiziert wird und nur einen Teil der gesamten kommunikativen Fähigkeiten des Menschen darstellt. Beide genetischen Anlagen für diese Fähigkeiten können getrennt voneinander evolvieren. Religiosität beinhaltet aber auch die individuellen Lerninhalte der Spiritualität und der spezifisch kulturellen Art der Kommunikation, die zwar variabel sind, aber nicht direkt der Evolution unterliegen. Religiosität hat daher als solches keine eigene Evolution, sondern eine kulturelle Entwicklung.

Mit Hilfe der Trennung von biologischen Ursachen (Imaginalität), kulturellen Interaktionen (Religiosität) sowie individuellen Sonderanpassungen (Spiritualität) können nun auch weitere Begriffe der Szene interpretiert und definiert werden.

Esoterik: Esoterik ist der Versuch, sich kulturell etablierte Glaubensinhalte, Methoden und Rituale für die eigene Sinnsuche im Rahmen der Spiritualität nutzbar zu machen und individuell zusammenzustellen. Meist ist es mehr glauben an Trends als individuelle Suche.

Sinn, persönlicher:
Biologisch gesehen ist Denken immer die Suche nach und Interpretation von Ursache-Wirkungs-Mechanismen. Durch eine spirituelle Überinterpretation in Zeit- und Bedeutungsmaßstab wird die erhoffte Auswirkung meines Handelns in Raum und Zeit zu meinem persönlichen Sinn.

Sinn- und Identitätsfindung:
Biologisches „Ziel“ des Zusammenspiels aller „Software-Programme“ ist die bestmögliche Anpassung der Psyche an die jeweilige Umwelt und Gruppe, sowie an die damit verbundenen Dynamiken. Durch spirituelle Fehlinterpretationen, durch (religiös-manipulative) Erziehung und Sozialisation oder durch fehlende Verifikationsmöglichkeiten aufgrund von nicht nachvollziehbaren Daten und Regeln kann es zu Fehlanpassungen der Psyche kommen, die dann bemüht ist, sich neu zu justieren. Sinn- und Identitätsfindung ist der Versuch einer  Neujustierung der Psyche aufgrund und mit Hilfe imaginalitärer „Software-Programme“.

Beleidigung religiöser Gefühle: Da die Annahmen zur Einjustierung in Umwelt und Gruppe biologisch notwendig sind, um das Überleben zu sichern, ist jeder Angriff auf die individuellen Vorstellungswelten – so falsch sie auch sein mögen – ein Angriff auf den emotionalen Halt und die individuelle Sinngebung. Das Angstgefühl bei Sinn- und Haltverlust ist proportional zur individuellen Abweichung von der Realität.

Ein weiteres schönes Beispiel für Fehlinterpretationen ist der Kreationismus. Häufig direkt in Verbindung mit dem Intelligent Design.

Kreationismus: Die Annahme, dass ein allmächtiges „Wesen“ korrigierend in den Selbstorganisationsprozess der Evolution eingreift. Hierzu gehören die Startvoraussetzungen, der gesamte Ablauf, sowie initiierte Endzustände des Selbstorganisationsprozesses.

Intelligent Design:
Erster Versuch die Glaubensannahme des Kreationismus als Wissenschaft zu verkaufen.

Die Kirchen in Deutschland suggerieren uns, dass Kreationismus und Intelligent Design Auswüchse seien, die wir so nur in den Vereinigten Staaten von Amerika finden würden. Dies stimmt nicht. Jeder Christ, der daran glaubt, dass Jesus Gottes Sohn ist, glaubt auch daran, dass Gott äußerst kreativ in die Geschichte und die Evolution eingegriffen haben muss. Nicht-eheliche Zeugung ist ja kein Kavaliersdelikt. Denn es ging bei der Jungfernzeugung gerade nicht biologisch-natürlich zu, worauf die Kirchen ja auch ausdrücklich Wert legen. Weiterhin macht ein Erlöser nur Sinn, wenn er uns von etwas erlösen kann. Die Hölle oder das Endgericht sind aber Eingriffe in den Selbstorganisationsprozess der Evolution und somit kreationistisches Gedankengut.

Um es also weniger schön auszudrücken: Jeder Christ muss laut Lehrmeinung ein Kreationist sein, um als Christ gelten zu dürfen. Nur zugeben oder eingestehen tun dies sich viele Menschen nicht.

Auch der Scientismus und der Aberglauben sind gern erwähnte Stichwörter in Diskussionen.

Scientismus: Spezialform der Spiritualität von Menschen, die in der wissenschaftlichen Methode des Erkenntniserwerbs Halt und Trost finden. Ersatz für eine gesunde Form der Erkenntnis, dass es Sachen gibt, die nicht zu erforschen sind und sich auf immer dem menschlichen Verstand entziehen werden.

Aberglauben: Der Glauben, den ich gestern noch selbst hatte, aber heute für falsch erkannt habe.