Debatte | 10.06.2011

Annexion durch Wortwahl



4. Sind Religionen notwendig?

Sind Religionen eine Antwort auf unsere biologisch notwendigen, unbewussten, archaischen Anpassungsmechanismen? Als der eiserne Vorhang verschwunden war und die Grenzen aufgingen, fanden viele Menschen der ehemals kommunistischen Länder den Weg in die Kirchen. Selbst in China finden heutzutage Religionsgemeinschaften wieder Zulauf. Für die Kirchen ist dies ein Beweis, dass ein natürliches Bedürfnis nach Religion und Kirche besteht, welches nicht durch „irdische“ Institutionen ersetzt werden kann. Allerdings waren die Zeiträume zur Entwöhnung geschichtlich gesehen kurz. Da überlebten viel Glauben und Aberglauben in den Familien. Da wurden viele Kinder teils bewusst, teils unbewusst mit der religiösen Materie vertraut gemacht. Von einer freien Entscheidung der Menschen für eine religiöse oder säkulare Familienwelt kann also nicht ohne weiteres gesprochen werden. Dennoch muss man den Kirchen und Glaubensgemeinschaften eine gewisse Kraft und Magie auf Menschen zugestehen, so dass die Frage durchaus relevant ist: Was suchen Menschen eigentlich wirklich in den Glaubensgemeinschaften?

Eine Erforschung der biologischen Grundlagen der Imaginalität und der Spiritualität sowie der damit verbundenen psychischen Prozesse könnte hier weiterhelfen. Erste Vermutungen zielen darauf ab, dass der Mensch unbewusst ablaufende „Software-Programme“ mit auf die Welt bekommt, die ihn nach bestimmten Erfahrungen und Einjustierungen suchen lassen. Er muss sich durch Lernen an seine artinterne und artexterne Umwelt anpassen und bekommt hierfür vorläufige Rahmenprogramme mit, die seine Überlebensfähigkeit sichern, bis er genügend empirische und logische Erfahrungen gesammelt hat, um ohne die Hilfsrahmen auszukommen. Kirchen und Glaubensgemeinschaften bieten viele Hilfsannahmen an, um sich in der Welt orientieren und zurechtfinden zu können. Sie erklären sowohl die artexterne Welt durch ihre Schöpfung, als auch die artinterne Welt durch Moral und Ethik. Sie bieten Belohnung und Bestrafung, sowie ein recht rudimentäres Bild von richtig und falsch zur Orientierung. Weiterhin beantworten sie die automatisch generierten Fragen unserer „Software“ nach den letzten Ursache-Wirkungs-Mechanismen: Dem Woher, Wohin und Warum. Und sie bieten dem Selbstbild ein notwendiges Freund-Feind-Schema zur Identifikation, in dem sie eine Innengruppen-Moral aufbauen.

Diese notwendige Orientierung kann auch humanistisch erfolgen. Wichtig ist, dass Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung durch Selbstfindungsprozesse unterstützt werden und die artinterne und artexterne Welt nicht nur erklärt bekommen. Menschen müssen auch ihren Platz in dieser Welt finden. Jeder Mensch kann sein Selbst, seine herausragenden Eigenschaften und Fähigkeiten entdecken und fördern. Jeder Mensch kann seinen Rahmenprogrammen der Imaginalität entwachsen und ohne die vorwissenschaftlichen Hilfskonstrukte der Religionen auskommen. Selbst das Freund-Feind-Schema, welches die Religionen so virtuos  bedienen, kann in den entsprechenden Altersklassen überwunden werden.

Die Religionen wissen dies und kümmern sich daher seit jeher um die Kinder. Denn hier wird der Keim zur Abhängigkeit von Hilfserklärungen gelegt. Ist eine Fehlinterpretation in der Entwicklung erst einmal eingetreten, ist sie schwer wieder zu korrigieren, weil sich das gesamte Selbstbild und Selbstbewusstsein darauf aufbauen. Dies muss nicht bedeuten, dass Religionen ausschließlich auf der Indoktrination von Kindern basieren. Es gibt auch Fehlentwicklungen, die ohne die Religionsvertreter auftauchen und später von den Glaubensgemeinschaften „behandelt“ werden.

Religionsgemeinschaften bieten aber etwas an, was andere Gruppen nur selten, säkulare Organisationen, Eltern, Lehrer und Einzeltherapeuten gar nicht bieten: Ein Gesamtkonzept, in das man sich betten kann. Dies kommt unserem Bedürfnis nach einer pleistozänen Kleingruppe recht nahe, mit der wir verschmelzen wollen. Wir wollen ein Teil der Gemeinschaft werden und uns in einer Über-Familie auflösen, die gemeinsame Grundsätze und Vorstellungen hat. Und je geringer das Selbstbewusstsein ist, desto mehr wollen wir uns mit etwas Größerem identifizieren. Heilsversprechen runden die Sache für treue Gefolgsleute ab. Dies ist ein Vorteil der Religionen. Dies ist der Nachteil für Menschen. Denn religiöse Gruppen verlangen Konformität, wo die Evolution auf Diversifikation und Variabilität setzt. Das europäische Mittelalter zeigt, dass Konformität zu Nichts außer zu Gewalt und Zwang führt.

Religionen sind eine archaische Antwort auf unsere archaischen Wünsche, aber eben nur eine von vielen möglichen Antworten. Ein erster Schritt zur Ablösung besteht darin, dass man sich den psychologischen Prozessen seiner Entwicklungsphasen bewusst wird und die Argumentationsebenen und die dazugehörigen Wörter und Begriffe der religiösen Welt hinterfragt. Die Vertreter der Religionen versuchen dies zu verhindern, indem sie ihre Vorstellungswelt in die Wissenschaften ausweiten und dort hinein interpretieren. Eine Evolution der Religionen oder der Religiosität zu postulieren ist ein Versuch, eine natürliche Rechtfertigung für Religionen zu bekommen, damit die Vorstellungswelt und die Glaubensinhalte als Teil der Wissenschaft überleben können. Diese Versuch ist genauso redlich, wie das Argument „Deus vult“.