Debatte | 10.06.2011

Annexion durch Wortwahl


3.2 Religionswissenschaft


Mithilfe der Definitionen rund um das Thema Religion kann nun auch die Religionswissenschaft als Wissenschaft in einem anderen Licht betrachtet werden. Womit beschäftigen sich Religionswissenschaftler? Die Gläubigen mögen mir den Vergleich verzeihen, aber er gibt einen guten Einblick in die Arbeit der Religionswissenschaften. Wenn von 100.000 Religionen 99.999 Irrlehren sind, – und dies sagen die Vertreter der Religionen voneinander – dann ist die Pathologie des Irrens wohl der häufigste Untersuchungsgegenstand. Zudem gibt er den Religionswissenschaftlern die Möglichkeit durch die Analogie weitere Forschungszweige zu identifizieren.

Religionswissenschaft: Epidemiologie von übertriebenen, nicht-logischen und nicht-überprüfbaren Vorstellungen und Hilfsannahmen, mit denen Menschen versuchen, ihre Position in Umwelt und Gesellschaft zu finden, zu bestätigen und auszuleben.

Religionswissenschaftler beschäftigen sich mit einer Nische zwischen Entwicklungspsychologie, Psychologie, Psychiatrie, und Soziologie. Da es sich bei den Phänomenen um individuelle Fehlinterpretationen im Kontext der Imaginalität handelt, gleicht ihr Grundthema der Epidemiologie, die sich mit der Auswirkung und Ausbreitungsdynamik von Krankheitserregern, Erkrankungen und psychischen Gebrechen beschäftigt. Im Falle der Religionswissenschaft sind individuelle Fälle spirituell, Epidemien und Pandemien werden als Religionen bezeichnet. Leichte Erkrankungen verlieren im Laufe ihres Lebens wieder an Glauben. Chronische Fälle müssen ihren Lebens- und Tagesablauf verändern.

Weitere Stichwörter, die sich aus dieser Analogie ergeben, sind Entstehung und Übertragung von Erregern, Virulenz, Infektiösität, Prävalenz, Resistenz, Inkubationszeiten, Impfungen, Quarantäne, die Wirkung von Gegenmitteln, deren Bioverfügbarkeit, sowie die Auswirkungen der Erreger auf Individual- und Gruppendynamiken, etc. Einige Religionswissenschaftler argumentieren, dass die Art des Erregers (Götter, Glaubensinhalte) keine Rolle spielen würde. Der Vergleich mit der Epidemiologie zeigt jedoch, dass unterschiedliche Erreger durchaus verschiedene Auswirkungen und Dynamiken haben könnten. Religionswissenschaftler müssen also mehr leisten, als nur  Anamnese und Diagnostik zu betreiben sowie die Übertragungswege und deren Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren. Hier zeigt sich für die Religionswissenschaft die Berechtigung zu dem Wortteil -wissenschaft.

Bis jetzt waren sie aber bei der Suche nach Erregern noch nicht so richtig erfolgreich. Manche Religionswissenschaftler definieren Religiosität als biologisch veranlagtes und kulturell ausgeprägtes Verhalten zu über-empirischen Akteuren, bzw. zu Kräften und Mächten, denen willentliches Handeln unterstellt werden kann. Dies hört sich auf den ersten Blick gut an, weil wir in unserer westlichen Kultur gewohnt sind, an persönliche Gottheiten mit einem eigenen Willen zu glauben. Gönnen wir uns aber einen zweiten Blick.

Über-empirisch: Begriff der Religionswissenschaften, der wohl bedeuten soll, dass es niemals mit der wissenschaftlichen Methode der Empirie zu beweisen oder zu widerlegen ist. Warum es über- und nicht unter- bzw. einfach nur nicht-empirisch heißt, bleibt ein Rätsel der Theologen, Religionswissenschaftler und anderer Wissenschaftler, die diesen Namen geprägt haben. Aber empirisch hört sich schon gut wissenschaftlich an, auch wenn es hier exakt das Gegenteil bedeutet. Gleichzeitig lässt es die Option der naturwissenschaftlichen Methode der Logik offen. Ganz im Sinne der Kirchen, die ihre Glaubensinhalte als höchste Form der Logik und Vernunft angesehen haben wollen.

Über-empirische Akteure: Begriff der Religionswissenschaften. Nicht zu verwechseln mit über-menschlichen, über-natürlichen oder transzendenten Mächten und Kräften, denen willentliches Handeln zugeschrieben werden kann. Über-menschlich sind auch alle Naturgesetze. Über-natürlich gilt auch für kulturelle Errungenschaften. Und Transzendenz können nicht einmal Theologen hinreichend erklären. Wichtig ist der Begriff Akteur, weil er die Interpretation offen lässt, dass es sich hierbei um Götter handeln könnte, die tatsächlich existieren. Ein Schlupfloch für alle Gläubigen, die nicht nur von Vorstellungen, Illusionen oder gar Halluzinationen sprechen wollen. Ein Entgegenkommen an die Kirchen, die die Lehrstühle vergeben.

Mit diesen Begriffen sollen Götter, Kräfte und Mächte aller Religionen charakterisiert werden, um die Glaubensvorstellungen von Menschen empirisch mit den wissenschaftlichen Methoden erfassen und vergleichen zu können.

Aber erstens beschreibt der Begriff „über-empirischer Akteur“ nicht alle Götter. Es gibt Glaubensrichtungen, in denen die Götter empirisch fassbar sind, z.B. als Quellen, Bären, Hirsche, aber auch transsubstantitionierte Hostien in Eucharistiefeiern. Zudem ist Jesus leiblich als Gott und Gottes Sohn vor uns erschienen und mit seinem Körper leiblich in den Himmel aufgestiegen. Sehen die Kirchen seine geschichtliche Existenz nicht als erwiesen an? Und ist der Dalai Lama nicht auch ein empirisch erfahrbarer Gott? Und was ist mit den nicht empirisch erfahrbaren Mächten und Kräften? Ist der Nachweis von Wundern nicht die Voraussetzung für Heiligsprechungen?

Und zweitens beschreibt der Begriff „über-empirischer Akteur“ auch nicht die Kräfte und Mächte, die gar nicht als Akteure tätig werden, wie z. B. das Ying und Yang des dualistischen Daoismus oder die Existenz, das Brahman, im Hinduismus. Vom Schicksal, Karma, ganz zu schweigen. Es könnte sich also als Glück für die Religionswissenschaften herausstellen, dass sich die Gläubigen gar nicht an die Lehrmeinungen halten und so ziemlich alles anbeten und verehren, was sich personifizieren lässt, selbst Wackeldackel im Auto, Christopherusplaketten und verstorbene Lehrmeister, wie Konfuzius. Eingeschränkt wird dieses Glück jedoch durch den lokalen Aberglauben. Gefundene Centstücke sind die Hinweise des Schicksals, welches als solches nicht angebetet wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Religionswissenschaften zwar unterschiedliche Erreger identifizieren können, aber nicht definieren können, was Erreger oder Krankheiten sind. Aber wenn wir ehrlich sind, das können die Ärzte auch nicht definieren. Trotzdem haben Mediziner Kriterien entwickelt, um Krankheiten, Neurosen und Psychosen eindeutig zu diagnostizieren und zu behandeln. Auch Religionswissenschaftler werden eindeutige Kriterien identifizieren müssen.

Ein weiterer kurzer Blick in den Religionswissenschaften sei der Neurotheologie gegönnt.

Neurotheologie: ist der Versuch, religiöse Phänomene neurophysiologisch zu erklären.

Ein einfaches Beispiel macht die neurotheologischen Annahmen deutlich. Wir zeigen einem Kind einhundert Fotos. Dann stimulieren wir sein Gehirn und messen gleichzeitig welche Areale aktiv sind, während das Kind sagt, was es gerade sieht und fühlt. Dann soll es uns zeigen, welche Bilder es gesehen hat. Und siehe da, es wird früher oder später das Bild von einem Gott oder einem Avatar wiedererkennen. Dann sagen wir ihm, dass dies z.B. Jesus ist, und schon antwortet das Kind beim nächsten Experiment, dass es Jesus gesehen hat. Ein unvoreingenommener Wissenschaftler würde aus solchen Experimenten schließen, dass Bilder in bestimmten Bereichen gespeichert werden und durch Stimulation bestimmter Areale wieder in die Erinnerung zurück gerufen werden können. Ein religiös motivierter Experimentator sieht darin, dass bestimmte Gehirnareale für religiösen Erfahrungen zuständig,  dass Kinder von Natur aus religiös sind und dass sie sogar die Götter sehen können. Auch wenn dieses Beispiel jetzt absichtlich etwas übertrieben simplifizierend ist, so macht es doch das Hauptproblem klar. Ohne das Lernen einer Sprache und gemeinsamer Begriffe können die Probanden nicht antworten, und mit dem Lernen sind sie durch die Kultur vorgeprägt. Es kann nur heraus kommen, was vorher schon an Informationen reingesteckt wurde. Selbstverständlich gibt es Areale im menschlichen Gehirn, die für solche Vorstellungen zuständig sind. Imaginalität, Phantasie und Kreativität brauchen solche Areale. Aber diese Areale sind in der Evolution nicht dafür geschaffen worden, um Götter zu erblicken. Der Begriff Neurotheologie ist in den Religionswissenschaften medienwirksam, dies ist aber auch schon alles.

Abschließend lässt sich über die Religionswissenschaften sagen, dass sie durchaus das Potenzial haben, ein wichtiges gesellschaftliches Thema wissenschaftlich exakt zu identifizieren und zu analysieren. Eine engere Zusammenarbeit mit Psychologen und Biologen wären wünschenswert. Gute Wissenschaft ging bis heute davon aus, dass nicht nachweisbare Annahmen und Hypothesen, wie der „liebe Gott“, außen vor bleiben müssen. Er darf nicht mit in die Wissenschaft geholt werden. Schon gar nicht, wenn eine einzige Vorstellung von ihm präferiert wird. Die Verbindung mit den christlichen Kirchen zeigt aber, dass durch das Entgegenkommen in den Begriffsdefinitionen höchstwahrscheinlich genau diese Option offengehalten werden soll. Wir werden den redlichen Wissenschaftler an seinen redlichen Definitionen und Arbeitshypothesen erkennen. Verhalten sie sich aber redlich und streng wissenschaftlich, so arbeiten sie genauso wie Epidemiologen, die an psychischen Erkrankungen forschen.