Ethik | 01.12.2010
Moral ist überall
Alles ist Moral, so wie alles Politik ist. Insofern ist nicht alles Moral. Trotzdem ist Moral von einiger Wichtigkeit, was man alleine daran erkennt, wie viele Bücher über das Thema geschrieben worden sind. Zugegeben sind auch viele Bücher über Paris Hilton geschrieben worden, aber die Moral beschäftigt Philosophen schon seit vielen Jahrtausenden und hat insofern einen Vorsprung.
Wie gelangen wir zu unseren moralischen Ansichten? Anthropologen machen auf den erstaunlichen Zufall aufmerksam, dass wir dazu neigen, das Moralsystem der Gesellschaft zu teilen, in der wir leben. Beispielsweise wäre in Deutschland so gut wie jeder Mensch schockiert, wenn sich jemand einen Berggorilla schnappen und ihn aufessen würde, aber in Frankreich gehört das zum guten Ton (oder in manchen Teilen Afrikas).
Versteht man Moral als Sammelsurium von Verhaltensstandards, dann gibt es nicht nur verschiedene Moralitäten in verschiedenen Gesellschaften, sondern auch Moralitäten darin und dazwischen, beispielsweise gibt es eine Geschäftsmoral (Verträge einhalten), eine Öffentliches-Schwimmbad-Moral (z.B. darf man als Mann nicht in die Damenkabine schauen), eine Fast-Food-Restaurant-Moral (man darf hingehen, aber nicht zugeben, dass man dort war), eine Protestmarsch-Moral (man muss so tun, als wüsste man, worum es geht), eine Modernes-Theater-Moral (man unterdrücke das Gelächter beim Anblick von Iphigenie in Alufolie). Es gibt religiöse Moralitäten (wie man sie von großen Vorbildern wie Albert Schweizer kennt) und es gibt nicht-religiöse Moralitäten (Josef Stalin wäre das repräsentive Beispiel).
Was ist Moral?
Wenn Ihnen die Definition von Moral als Verhaltensstandard nicht gefällt, gibt es weitere Definitionen im Angebot: „Moral bezieht sich auf richtige und falsche Gedanken und Verhaltensweisen im Kontext der Regeln einer sozialen Gruppe.“ Oder die hier: „Der moralische Diskurs versucht die Frage zu beantworten: Was sollte getan werden?“ Und zu guter Letzt: „Moral dient dazu, das Benehmen zu leiten und Verhalten oder Haltungen zu verändern.“
Für Anthropologen sind „moralisch“ und „unmoralisch“ zwei Etiketten, die Verhaltensweisen angeheftet werden können, je nachdem, inwiefern sie den Gruppenstandards entsprechen. Zum selben Zweck kann man auch andere Etiketten gebrauchen: Legal / Illegal, Vernünftig / Verrückt, Normal / Abnormal, Freundlich / Unfreundlich, und so weiter.
Es gibt jedoch etwas, das der Moral vorausgeht. Im Fall von heimlichen Bordellbesuchen des lüsternen Ehemannes ist es zum Beispiel der Sexualtrieb, aber gemeint sind hier „vormoralische Empfindungen“. Michael Shermer zählt folgende Eigenschaften dazu:
Anhänglichkeit und Bindung, Kooperation und gegenseitige Hilfe, Mitgefühl und Sympathie, direkte und indirekte Reziprozität, Altruismus und gegenseitiger Altruismus, Konfliktlösung und Friedenschließen, Täuschung und Täuschungserkennung, Sorge um die Gemeinde und Sorge darum, was andere über dich denken, Bekanntheit mit und Antwort auf die sozialen Regeln der Gruppe.
Auf Grundlage dieser natürlichen vormoralischen Empfindungen sind beim Menschen kulturell verschiedene Moralitäten entstanden. Die meisten der vormoralischen Empfindungen, vielleicht alle, gibt es auch bei Menschenaffen.