
Glücksforschung | 08.08.2010
In diesem Teil unserer Reihe über Ethik und Glücksforschung geht es um die Frage, welche Gesellschaftsform den Menschen am erfolgreichsten ein langes und glückliches Leben ermöglicht und wie es von nun an weitergeht.
Wie bereits in „Eine Wissenschaft des Glücks [2]“ angedeutet, geht die moderne Gesellschaft als Sieger im Wettstreit um das Glück auf Erden hervor, und je moderner sie ist, desto besser für alle Beteiligten. Aber auch in vielen Stammesgesellschaften leben die Menschen recht glücklich. Agrarische Gesellschaften dagegen schneiden viel schlechter ab als die Konkurrenz. Warum ist das so?
Stammesgesellschaften
Jäger-und-Sammler-Kulturen gibt es zwar heute noch, aber sie sind nur bedingt geeignet, um herauszufinden, wie unsere Vorfahren den Großteil der 50 000 Jahre gelebt haben, seit der Homo sapiens existiert. Von modernen Jägern und Sammlern gibt es positive Berichte, wie über die freie Sexualmoral in Samoa oder einstmals die Beschreibungen der „edlen Wilden“ von Tahiti, wie man sie vom Naturforscher Joseph Banks, der im 18. Jahrhundert mit James Cook zu den südpazifischen Inseln segelte, kennt. Tahiti ist eines der Beispiele, was mit Naturvölkern beim Kontakt mit modernen Gesellschaften passieren kann. Tahitianische Frauen zogen sich von europäischen Männern Geschlechtskrankheiten zu und die Bewohner Tahitis wurden zu großen Teilen alkoholabhängig. Bald war von der utopischen Gesellschaft, die Banks beschrieben hatte, nichts mehr übrig. Soweit die romantische Version.

Zugleich gab und gibt es auch negative Berichte über das Leben von Naturvölkern, darunter gewaltsam versklavte Ehefrauen (etwa in Papua-Neuginea), Sklavenhändler (afrikanische Häuptlinge haben Mitglieder ihrer Stämme an die Europäer verkauft) ständige Kriege zwischen verschiedenen Stämmen und Aberglauben, der zu religiös begründeter Folter, zu Menschenopfern und Kannibalismus führen konnte. James Cook selbst wurde bei seinem dritten Besuch Tahitis im Jahre 1777 Zeuge eines Rituals, das mit einem Menschenopfer endete. Schon Banks hatte die negativen Seiten Tahitis angedeutet, wo Infantizit häufig vorkam und wo Diebstahl an der Tagesordnung war, was die Tahitianer wohl doch nicht so fröhlich stimmte, wie Banks das anfangs vermutete.
Vielleicht wegen ihres Glaubens an den kulturellen Relativismus (Thin 2008 [3]) haben Anthropologen bis vor kurzem niemals versucht, die Glücklichkeit von Naturvölkern festzustellen. Die Psychologen Biswas-Diener et. al. (2005 [4]) haben jüngst eine Studie über die Glücklichkeit der Inughuit, Amesch und Maasai angefertigt und herausgefunden, dass die Viehzucht-treibenden Maasai ungefähr so glücklich sind wie Menschen in modernen westlichen Gesellschaften, während die Landwirtschaft-betreibenden Amesch viel unglücklicher leben.
Der Soziologe Ruut Veenhoven, auf dessen Arbeit „Das Leben wird besser [3]“ dieser Artikel überwiegend beruht, bevorzugt die historische Anthropologie, die auf archäologischen Funden basiert, auch wenn diese nur ein bruchstückhaftes Bild vom Leben unserer Vorfahren vermitteln. Als einschlägige Arbeiten nennt er Maryanski and Turner (1992 [5]) and Sanderson (1995 [6]). Ihre Literatur geht, wie ein Großteil der modernen Forschung, davon aus, dass Gruppen von Jägern und Sammlern für den Großteil der menschlichen Existenz die einzige Gesellschaftsform darstellten. Erst vor rund 10 000 Jahren sind allmählich die ersten Gärtner- und dann Agrargesellschaften entstanden. Erst im 18. Jahrhundert formte sich die Industriegesellschaft und im 20. Jahrhundert fing jene damit an, sich in eine Diensleistungsgesellschaft („post-industriell“) umzuwandeln, ein Prozess, der noch im Gange ist.
Jäger-Sammler-Kulturen haben begrenzte Möglichkeiten, ihre Mitglieder zu kontrollieren, da Abweichler sich für eine Weile selbst verpflegen können und weil sie die Option haben, anderen Gruppen beizutreten. Da Jäger und Sammlung insofern kaum andere für sich arbeiten lassen, ist die Anhäufung von Reichtum und Macht schwierig unter diesen Bedingungen. Darum neigt diese Art von Gesellschaft dazu, frei und egalitär zu sein. Da unsere Vorfahren, auch die Hominiden, die dem Homo sapiens vorangingen, in Jäger-und-Sammler-Kulturen gelebt haben, hat diese Lebensweise Spuren in unserer Psyche hinterlassen. Dies dürfte zur Erklärung der starken Korrelation zwischen Einkommensungleichheiten und Gesellschaftskrankheiten beitragen: Wir sind offenbar auf ein Leben unter Gleichen programmiert, was man aber auch nicht überinterpretieren sollte.
Agrargesellschaften

In Agrargesellschaften hängt das Überleben von der Kontrolle von Land ab. Menschen werden abhängiger von ihrer Familie und sie sind stärker gefährdet durch die Ausbeutung durch eine Kriegerkaste. Laut Maryanski und Turner (1992 [5]) sperrte das die Menschheit in den „sozialen Käfig“ der kollektivistischen Gesellschaft. Das Leben des Einzelnen wurde von Gruppen und Autoritäten bestimmt.
Die Forschung ist sich uneins darüber, wie es überhaupt zu einem Wandel zur Agrargesellschaft kommen konnte, obwohl die Menschen darin abhängiger sind und länger arbeiten müssen als in Stammeskulturen. Agrargesellschaften scheinen eine sehr „unnatürliche“ Lebensform zu sein. Die Biologen Greg Wadley & Angus Martin argumentieren in ihrer Arbeit „Die Ursprünge der Landwirtschaft [7]“ – kein Scherz! – dass die Menschen, die zur Agrargesellschaft übergegangen sind, unter Drogeneinfluss standen. Ihr Fazit muss man gelesen haben:
„Wir haben Beweise verschiedener Forschungsgebiete geprüft, die zeigen, dass Getreide- und Milchprodukte drogenähnliche Eigenschaften haben, und dargelegt, wie diese Eigenschaften den Anreiz für die beginnende Einführung der Landwirtschaft gegeben haben könnten. Wir haben des weiteren überlegt, dass eine konstante Exorphinaufnahme die Verhaltensänderungen und das darauf folgende Bevölkerungswachstum der Zivilisation durch Vergrößerung der Toleranz der Menschen begünstigte und zwar bezogen auf (a) Sesshaftigkeit mit Übervölkerung, (b) Anstrengungen zugunsten nichtverwandter Personen und (c) das Einnehmen einer unterwürfigen Rolle innerhalb eines großen hierarchisch gegliederten Gesellschaftssystems.“
Die beiden Biologen sind auch der Meinung, dass unsere Einnahme von Getreide- und Milchprodukten der wichtigste Faktor ist, der unsere moderne Gesellschaft zusammenhält, der Grund, warum wir nicht wieder in Stämme zerfallen. „Legalize it!“ als Gründungsparole der Zivilisation.
Als alternative Droge sind die monotheistischen Religionen zusammen mit der Agrargesellschaft entstanden. Sie boten als „Opium des Volkes“ ein Mittel, Menschen für die Interessen der Führungskaste zu versklaven und ihren Lohn auf das Jenseits zu verschieben. Eine damals noch originelle Methode, Rentengarantie zu versprechen, ohne das Versprechen einlösen zu müssen.
Industriegesellschaften

In der industriellen Phase kam es schließlich zu einer Abwanderung vom Land in die Städte, wobei diese sogenannte „Urbanisierung“, wie wir heute wissen, mit der sozialen Gesundheit korreliert. Die Arbeitsteilung führt zu einem Wandel der Abhängigkeiten von der Familie und der Gemeinde zu anonymen Institutionen wie dem Staat. Durkheim (1897 [8]) nannte dieses Phänomen den Wechsel von der „mechanischen Solidarität“ zur „organischen Solidarität“.
Die Industriegesellschaft hat nach einer Phase der Ausbeutung, die den meisten Menschen immer noch lieber war als die Unterdrückung und Ausbeutung durch ihre Familien und Gemeinden, zu einer zunehmenden Befreiung geführt. Zuerst wurde die Kinderarbeit abgeschafft, die auch in Agrargesellschaften noch vorherrschte, dann wurden die Sklaven befreit und schließlich sogar die Frauen (aus irgendeinem Grund war deren Befreiung überall die letzte Phase, sogar Juden erreichten 1792 in Frankreich gleiche Rechte vor den Frauen). Wenn es auf Produktivität und Konsum ankommt, dann sind Diskriminierungen von fähigen Arbeitern ein wirtschaftliches Hindernis.
Wettstreit der Lebensweisen

Auf der Basis von ausgegrabenen Knochen und Zähnen können wir schätzen, wie lange Menschen gelebt haben und wie gesund sie dabei waren. Die Forschung in diesem Bereich hat ergeben, dass Menschen in Jäger-Sammler-Kulturen und in Agrargesellschaften vergleichbar lange gelebt haben, wobei die Jäger und Sammler ein gesünderes Leben geführt haben, sich besser ernährten und weniger arbeiteten (vgl. Sanderson 1995 [6]: 340–343). Die Industriegesellschaften unserer Zeit schneiden allerdings in jedem Bereich besser ab. Wir leben länger und gesünder und wir werden größer als alle unsere Vorväter es jemals getan haben.
Da die Glücklichkeitsforschung relativ neu ist, müssen wir uns für frühere Generationen und Gesellschaftsformen mit Daten über Gesundheit und Lebenserwartung begnügen. Diese korrelieren allerdings stark mit der Glücklichkeit. Auf dieser Basis hat Veenhoven berechnet, dass das GLJ (Glückliche Lebensjahre) von Jäger und Sammlern und von Menschen in Agrargesellschaften nicht höher gewesen sein kann als 45 – ihre Lebenserwartung. Selbst wenn die Menschen in Agrargesellschaften und als Jäger und Sammler jeden einzelnen Tag ihres Lebens sehr glücklich waren, so würden sie immernoch gegen uns verlieren. Heute variiert der GLJ in modernen Nationen nämlich zwischen 50 und 60.
Was bringt die Zukunft?
Wenn es so weitergeht, wie bisher, dann werden sowohl die Glücklichkeit, als auch die Lebenserwartung, weiter ansteigen. Heute liegen die durchschnittlichen Glücklichkeitswerte zwischen 3.2 für Tansania und bei 8.5 für Island (jeweils von 10). Es gibt also noch viel Spielraum. Das erreichbare Maximum dürfte bei 9 liegen, da es unabwendbares Leid im Leben der Menschen gibt (z.B. den Tod von Angehörigen), aber auch, weil keine Gesellschaft die Bedürfnisse von allen Individuen gleichermaßen erfüllen kann.
Die Lebenserwartung in modernen Gesellschaften könnte auf 100 Jahre ansteigen (Manton et al. 1991 [9]; Vaupel and Lundström 1993 [10]). Die Länge des Lebens kommt nicht auf Kosten der Lebensqualität: Ältere Menschen sind ein wenig glücklicher als Menschen im mittleren Alter. Wem das noch nicht genügt und wer eine romantische Zukunftsprophezeiung bevorzugt, der kann ja hoffen, dass die Transhumanisten recht haben und wir auch den Tod noch mit Hilfe von Technologie bezwingen werden.
Menschen in den modernen Gesellschaften geht es also gut, aber wie sieht es aus mit den Menschen in der Dritten Welt? Nun, den geht es ebenfalls zunehmend besser. Die unterentwickelten Nationen holen mit einer gewaltigen Geschwindigkeit auf.
Der Zoologe Matt Ridley hat ein brandneues Buch zu eben diesem Thema geschrieben. Es heißt „The Rational Optimist [11]“. Aus der Zusammenfassung: „Das Leben wird besser – mit zunehmender Geschwindigkeit. Nahrungsangebot, Einkommen und Lebenserwartung gehen rauf; Krankheit, Kindersterblichkeit und Gewalt nehmen ab – überall auf der Welt. Obwohl die Welt lange nicht perfekt ist, werden lebensnotwendige Güter und Luxusprodukte günstiger; das Bevölkerungswachstum nimmt ab; Afrika folgt Asien aus der Armut; das Internet, das Mobiltelefon und der Transport mit Containerschiffen bereichern das Leben der Menschen wie niemals zuvor. Die Pessimisten sagen, wir würden bald einen Wendepunkt erreichen und die Dinge würden damit anfangen, schlechter zu werden. Aber das sagen sie seit 200 Jahren.“
Quellen
Greg Wadley & Angus Martin: Die Ursprünge der Landwirtschaft [7]
Holmes, Richard: The Age of Wonder [12]
Ridley, Matt: The Rational Optimist [13]
Veenhoven, Ruut: Life is Getting Better: Societal Evolution and Fit with Human Nature [14]
Veenhoven, Ruut: World Database of Happiness [15]
Wir wollen auf Erden glücklich sein
Teil 1: Gut sein ohne Gott [16]
Teil 2: Ethik für alle [17]
Teil 3: Eine Wissenschaft des Glücks [2]
Teil 4: Die frohere Botschaft
Alle Fotos: morguefile.com [18]
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-461-804.jpg
[2] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../../evo-magazin/eine-wissenschaft-gluecks
[3] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR41
[4] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR2
[5] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR25
[6] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR35
[7] http://www.rohkostwiki.de/wiki/Die_Urspr%C3%BCnge_der_Landwirtschaft
[8] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR7
[9] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR23
[10] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/#CR43
[11] http://www.amazon.de/Rational-Optimist-How-Prosperity-Evolves/dp/006145205X
[12] http://books.google.de/books?id=CmoALmtxN2QC&dq=holmes+the+age+of+wonder&source=bl&ots=CKJo1dhnUJ&sig=AiuaDMCJ9JjrDlsKZfG-liFCzrk&hl=de&ei=Pb5eTNuBBsyJOLiXtL0J&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=8&ved=0CEwQ6AEwBw
[13] http://www.rationaloptimist.com/
[14] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/
[15] http://worlddatabaseofhappiness.eur.nl/
[16] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../../evo-magazin/gut-sein-ohne-gott
[17] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../../evo-magazin/ethik-fuer-alle
[18] http://www.morguefile.com/