Ethikologie | 06.06.2010
Wie misst man, ob Menschen glücklich sind? Ist eine universelle Ethik zum Scheitern verurteilt, weil alle Menschen etwas anderes vom Leben erwarten?
Im Gegenteil: Psychologische und soziologische Untersuchungen haben gezeigt, dass es sehr einfach ist, Glücklichkeit zu messen. Mehr noch: Wir können problemlos herausfinden, was wir tun müssen, um möglichst vielen Menschen ein langes und glückliches Leben zu ermöglichen.
Wir haben es zu großen Teilen sogar schon herausgefunden. Es fehlt vor allem der Wille, die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Ein Grund für das Zögern ist sicherlich das mangelnde Wissen über unsere Fortschritte in der Wissenschaft des Glücks, sowie falsche Vorstellungen über den Menschen und seine Ethik.
Die guten alten Zeiten
Ruut Veenhoven von der Erasmus Universität in Rotterdam hat sich mit der Frage befasst, ob das Leben in der Moderne für die Menschen besser wird. Aktuell herrscht in der Forschung und in der Öffentlichkeit die pessimistische Sicht vor: Der moderne Mensch vereinsamt, er wird zum Egoisten, er sieht sein Leben als sinnlos an. Kein Wunder, dass auch Soziologen zu solchen Schlussfolgerungen neigen: Statistiken untersuchen Probleme wie Unfallraten, Selbstmordraten, Armut, Drogenmissbrauch und Teenagerschwangerschaften. Positive Entwicklungen werden kaum erkannt, schließlich werden sie viel seltener untersucht. Auch die Medien berichten lieber über Katastrophen und Probleme aller Art.
Erst kommt das Fressen
Klassischerweise wurden in der Soziologie äußerst komplexe Methoden gebraucht, um die Lebensqualität zu messen. Man fragte nach der Lebenstauglichkeit der Umgebung, nach der persönlichen Lebensqualität, nach der Nützlichkeit des Lebens und nach dem Lebensgenuss. Veenhoven vergleicht diese Kategorien mit analogen Konzepten in der Biologie:
a) Biotop/Habitat: Lebenstauglichkeit der Umgebung
b) Fitness: Persönliche Lebensqualität
c) Ökologische Funktionen und das Weiterbestehen der Art: Nützlichkeit des Lebens
d) Überleben: Lebensgenuss
Damit ist auch in der Soziologie einmal anerkannt worden, dass der Mensch mit den Tieren bestimmte Bedürfnisse teilt, weil er selbst ein Tier ist. Die menschliche Lebensqualität versuchte man bislang anhand von Kategorien wie Pro-Kopf-Einkommen, Bildung und Lebenserwartung zu messen. Allerdings kann man nicht einfach Ursachen und Folgen addieren, so Veenhoven. Was zählt, ist die Übereinstimmung der Faktoren, nicht ihre Summe.
Veenhoven wendet sich ab von komplizierten, aber fruchtlosen Erhebungen und vereinfacht die Fragestellung: Wie lange und glücklich leben Menschen? Wenn Menschen lange und glücklich leben, sind nämlich alle Bedingungen notwendigerweise erfüllt: Lebenstauglichkeit der Umgebung, persönliche Lebensqualität, Nützlichkeit des Lebens und Lebensgenuss.
Leben wie im Märchen
„...und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage“. So lautet das typische Happy-End eines Märchens. Wir freuen uns, wenn die Geschichte für unsere liebgewonnenen Charaktere „gut ausgeht“. Hätten Menschen völlig verschiedene Vorstellungen vom guten Leben, dann gäbe es Kulturen, in denen Märchen ein ganz anderes Happy-End hätten, zum Beispiel: „Und das sechsköpfige Monster fraß den Prinzen und zertrat die Prinzessin und alle Menschen waren schrecklich traurig.“ Und das wäre ein gutes Ende, ein "Happy-End", mit dem alle Leser dieser Kultur zufrieden sein müssten. Ist das wirklich plausibel?
Ein anderer Einwand sind Menschen, die böse Dinge tun. Dschihadisten sprengen sich und andere in die Luft. Allerdings: Dafür werden sie ihrer Auffassung nach belohnt ihm Jenseits – wo sie ein langes und glückliches Leben erwartet. Bereits auf der Erde erwartet oftmals ihre Verwandtschaft ein gutes Leben, weil zum Beispiel in Palästina die Familien von Märtyrern belohnt werden. Pol Pot ermordete den Großteil der Intellektuellen in Kambodscha – aber dafür würden die unterdrückten Bauern ein langes und glückliches Leben in trauter Gleichheit führen, wie er glaubte. Hitler ermordete sechs Millionen Juden – und erwartete sich davon ein langes und glückliches Leben für alle „übermenschlichen“ Arier. Man erkennt also, dass Menschen essenziell dasselbe unter einem guten Leben verstehen, nur dass sie sich schwerstens darüber irren können, wie es zu erreichen ist. Die Ethik vieler Menschen ist einfach falsch, im selben Sinne, wie „1+1“ nicht „3“ ergibt.
Wie misst man Glück?
Es ist also eine tolle Sache, ein langes und glückliches Leben zu führen. Wenn Sie kein Akademiker sind, wissen Sie das wahrscheinlich sowieso schon; aber in intellektuellen Gefielden wird alles mindestens so lange auseinandergenommen, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Wie an den Repliken zu den ersten Teilen dieser Reihe erkennbar war, sind Philosophen offenbar eher der Ansicht, dass man das Verlangen nach einem langen und glücklichen Leben nicht für alle Menschen verallgemeinern könne. Verdächtigerweise sind diese großen Denker trotzdem stets betrübt darüber, wenn der Kaffeeautomat ihrer Fakultät leer ist und dieser Umstand ihr eigenes Lebensglück beeinträchtigt.
Die Frage, wie man das Glück misst, stellte Soziologen und Psychologen vor große Herausforderungen. Die Länge eines durchschnittlichen Bürgerlebens zu messen, ist dagegen sehr einfach: Man zieht amtliche Eintragungen zu Rate und ermittelt die durchschnittliche Anzahl der Jahre zwischen Leben und Tod. Basierend auf diesen Erfahrungen schätzt man, wie lange die Lebenden noch in jenem Zustand verweilen werden. Am Ende kommt etwas heraus, das wir „Lebenserwartung“ nennen und das in den Weltgesundheitsstatistiken auftaucht. In den „Human Development Reports [2]“ findet man die Daten fast aller Länder, die jedes Jahr frisch aktualisiert werden.
Aber wie misst man das Glück? Allerlei physiologische Korrelate wurden überprüft, aber keine lassen sich stabil mit dem Lebensglück in Verbindung bringen. Auch öffentlich erfassbare Verhaltensweisen lassen sich nicht konsistent mit der inneren Lebensfreude verknüpfen. Zwar sind Menschen, die versuchen, sich umzubringen, in der Regel sehr unglücklich, allerdings versuchen nicht alle Unglücklichen, sich umzubringen. Wieder hat der kalte Statistiker das Nachsehen.
Seit den 1970ern gebrauchen Statistiker darum verlegen die folgende Methode: Sie fragen die Leute einfach, ob sie glücklich sind. Eine professionelle Frage dieser Art sieht wie folgt aus:
„Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie zur Zeit, alles in allem, mit Ihrem Leben insgesamt?“
Nun darf man auf einer Skala von 1 für „unzufrieden“ bis 10 für „zufrieden“ ankreuzen, wie man die Sache sieht. Das ist alles.
Natürlich gab es über die letzten Jahrzehnte immer wieder Einwände, dass eine solche Methode doch viel zu einfach sei und unmöglich verlässliche Ergebnisse liefern könne. Ruut Veenhoven hat nach empirischen Belegen für die Einwände gesucht und hat keine gefunden. Andere Forscher sind ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Methode verlässlich ist. In der Tat korrespondieren Unterschiede in der Glücklichkeit zwischen den Nationen auf vorhergesagte Weise mit den nationalen Häufigkeiten von Depression und Selbstmord.
Simplizissimus Glück
Natürlich konnten die Forscher das nicht einfach so hinnehmen, also haben sie die komplizierteste Mathematik angewendet, die sie auftreiben konnten, um Glück und Lebenserwartung miteinander zu kombinieren. Am Ende hat sich folgende, frustrierend einfache Formel durchgesetzt:
Glückliche Lebensjahre = Lebenserwartung bei Geburt x 0-1 Glücklichkeit
oder:
Glückliche Lebensjahre = (Lebenserwartung bei Geburt) x (Glücklichkeitswert / 10)
Nehmen wir an, dass die Lebenserwartung in einem Land „60“ Jahre beträgt und der Durchschnittswert auf der Glücklichkeits-Skala ist „5“:
60 x 0.5= 30
Also sind die Menschen im untersuchten Land im Schnitt 30 Jahre lang glücklich. Beträgt ihr Glücklichkeits-Wert dagegen „8“, dann ist der GLJ (Glückliche Lebensjahre) „48“.
Mehr Mathematik ist nicht nötig, um Glück zu messen. Es ist überhaupt kein Problem. Entsprechend einfach ist es, auf dieser Basis eine Wissenschaft des Glücks zu entwickeln: Man muss sich lediglich ansehen, welche Faktoren für das Glück der Menschen verantwortlich sind. Seit Veenhovens Studie (2005) ist das bereits zum Teil erledigt worden.
Modernes Glück?
Wer ist glücklicher? Die Menschen in modernen Ländern oder die Armen in Drittweltländern? Schauen Sie einfach selbst nach in der World Database of Happiness [3].
Wieder gibt es mehrere Möglichkeiten, wie man feststellen kann, ob ein Land modern ist. Der „Human Development Index“ und der „Index of Social Progress“ beziehen zahlreiche Faktoren mit ein. All diese Faktoren korrellieren stark mit der Kaufkraft pro Kopf, also kann man es sich wieder leicht machen und einfach diese als Maßstab für eine moderne Gesellschaft verwenden. Vergleicht man den GLJ der Länder Dänemark, Belgien, Frankreich, Westdeutschland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und England von 1973 bis 1999, so ist ein eindeutiger Trend festzustellen: Der GLJ ist von 46,5 im Jahre 1973 auf 51,3 im Jahre 1999 angestiegen. Falls sich der Trend fortsetzt, werden West-Europäer im Jahre 2050 ganze 62,2 Jahre ihres Lebens glücklich sein, was einem Zugewinn an Lebensglück von 15,7 Jahren in weniger als einem Jahrhundert entspricht. Ähnliche Trends kann man für andere entwickelte Länder wie die USA und Japan feststellen.
Und wie lautet nun das Ergebnis? Veenhoven: „Der GLJ ist systematisch höher in reichen Nationen als in armen.“ Der GLJ korrelliert positiv mit Industrialisierung, Informatisierung, Urbanisierung und Individualisierung. „Die Korrelationen sind stark und lassen keinen Zweifel daran, dass Menschen in den meisten modernen Gesellschaften länger und glücklicher leben.“
Aber gibt es einen optimalen Grad an Modernisierung? Sind wir irgendwann zu modern? War vielleicht eine frühere Stufe der Modernität besser? Um diese Frage zu beantworten, hat Veenhoven die Entwicklung der glücklichen Lebensjahre über die letzten Jahrzehnte in den modernen Ländern untersucht und sie statistisch ausgewertet. Das Ergebnis: „All dies beweist, dass das Leben besser wird und nicht schlechter, zumindest in den modernsten Nationen unserer Zeit.“
Ein interessanter Nebenschauplatz sind die ehemaligen kommunistischen Länder: Veenhoven hat herausgefunden, dass es eine Übergangsphase im Lebensglück gibt: Direkt nach dem Fall der Mauer waren die Menschen lange Zeit unglücklicher in den betroffenen Ländern. Aber kein Grund zur Sorge: Der Trend kehrt sich gerade um und der Osten gleicht sich dem Westen auch in Punkto Lebensglück an.
Ausblick
Im nächsten Teil der Reihe geht es um die Frage, ob Menschen in Stammeskulturen, in Agrargesellschaften oder in modernen Gesellschaften glücklicher leben und woher wir das wissen. Außerdem soll aufgezeigt werden, was wir tun müssen, um möglichst vielen Menschen ein langes und glückliches Leben zu ermöglichen.
AM
Quellen
UN: Human Development Reports [2]
Veenhoven, Ruut: Life is Getting Better: Societal Evolution and Fit with Human Nature [4]
Veenhoven, Ruut: World Database of Happiness [3]
Danke an Rolf Degen [5] für den Hinweis auf die Studie!
Wir wollen auf Erden glücklich sein
Teil 1: Gut sein ohne Gott [6]
Teil 2: Ethik für alle [7]
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-435-734.jpg
[2] http://hdr.undp.org/en/
[3] http://worlddatabaseofhappiness.eur.nl/
[4] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848343/
[5] http://www.perlentaucher.de/autoren/15284/Rolf_Degen.html
[6] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../../evo-magazin/gut-sein-ohne-gott
[7] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/ethik-fuer-alle