Religion | 02.02.2009
Religiosität ist ein Rätsel. Denn wie kommt es, dass die meisten Menschen nicht nur zu allen Zeiten, sondern in fast allen Kulturen beziehungsweise Ländern auch heute noch gläubig sind? Obwohl es keine guten Argumente für die Existenz transzendenter Mächte gibt und religiöses Verhalten oft sehr zeitaufwendig und kostspielig ist? Nun sollen naturwissenschaftliche Erklärungen dieses Rätsel lösen: Religiosität könnte von der Evolution hervorgebracht worden sein – als Erfolgs- oder Abfallprodukt. Der Biologe und Philosoph Rüdiger Vaas fasst den aktuellen Forschungsstand zusammen und warnt vor falschen Schlüssen.
Von einem evolutionsbiologischen Standpunkt aus betrachtet könnte Religion als überflüssiger Luxus erscheinen – und müsste dann womöglich längst ausselektiert sein. „Die Religion ist die größte Herausforderung für die Soziobiologie des Menschen“, schrieb einer ihrer Begründer, Edward O. Wilson, deshalb. Diese Herausforderung geht allerdings in zwei Richtungen! Sie ist erstens eine für die Evolutionstheorie: Gerät diese in Schwierigkeiten, wenigstens in ihrer Anwendbarkeit auf den Menschen, wenn Religion ein reiner Luxus ohne irdische Vorteile ist? Zweitens ist aber auch die Religion selbst herausgefordert: Wird sie hinfällig, wenn sie sich naturalistisch erklären lässt?
Aus darwinistischer Perspektive – und Charles Darwin selbst hat darüber bereits nachgedacht – besteht die Möglichkeit, dass Religiosität nicht (überwiegend) einen Selektionsnachteil hat, sondern einen Selektionsvorteil. Sie wäre dann vielleicht eine Illusion – aber eine nützliche.
Tatsächlich mehren sich in letzter Zeit die Versuche, Religiosität als eine Art evolutionäre Anpassung zu interpretieren und zu erklären. Das ist eine hochinteressante Hypothese, die deshalb auch häufig die Aufmerksamkeit von Massenmedien anzieht. Allerdings muss sie entgegen vieler populärer Darstellungen – sowie einiger Behauptungen mancher Wissenschaftler – sehr differenziert und kritisch betrachtet werden. Zumindest sollte man beim gegenwärtigen Forschungsstand keineswegs sagen, dass die Hypothese bereits erhärtet ist. Was im Hinblick auf dieses noch junge Thema der Wissenschaft freilich auch nicht verwundert, sondern im Gegenteil dessen faszinierende Dynamik deutlicher werden lässt. Und darin liegt vielleicht der besondere Reiz dieser neuen Forschungsrichtung: Dass der Glaube ans Übernatürliche auf natürliche Weise verstanden und sogar entzaubert werden kann.
Um herauszufinden, ob es tatsächlich eine Evolution der Religiosität gab und vielleicht noch gibt, müssen verschiedene zentrale Fragen beantwortet werden. Vor allem:
• Was ist Religiosität eigentlich, und was ist Religion? [2]
• Ist Religiosität eine evolutionäre Anpassung? [3]
• Was sind die Kriterien für eine evolutionsbiologische Erklärung der Religiosität als Anpassung? [4]
• Worin, wenn überhaupt, bestehen die Selektionsvorteile der Religiosiät? [5]
Darüber hinaus stellt sich die Frage:
• Sind Religionen wahr und gut, wenn Religiosität als eine evolutionäre Anpassung nützlich ist? [6]
Im folgenden fasse ich den aktuellen Forschungsstand zusammen und weise auf falsche Schlüsse hin.
Religiosität ist eine Fähigkeit oder Eigenschaft: das mehr oder weniger ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmal, eine Religion im weitesten Sinn zu haben und sich so gläubig auf Transzendentes zu beziehen – im Erleben, Denken, Fühlen und Handeln. Doch wie bestimmt man Religion?
„Die Religion ist nichts als der Schatten, den das Universum auf die menschliche Intelligenz wirft“, pointierte es der Schriftsteller Victor Hugo einmal. Der Begriff schillert in seiner Bedeutungsvielfalt – und schon das fordert die menschliche Intelligenz heraus. Bereits 1912 klagte der Psychologe James Henry Leuba darüber, dass es mehr als 50 Definitionen für Religion gäbe. Inzwischen sind noch viele hinzugekommen. Die Situation ist also verwirrend und unübersichtlich – aber keineswegs einzigartig, denn mit vielen zentralen Begriffen verhält es sich ähnlich. (Man frage beispielsweise einmal Philosophen, was „Philosophie“ sei.)
Folgende sieben Merkmale (oder „Bündel“ von Merkmalen) scheinen mir für „Religion“ charakteristisch und sogar wesentlich zu sein:
• Transzendenz: der Glaube an eine außer- und übernatürliche Macht oder mehrere Mächte
• Ultimative Bezogenheit: das Gefühl der Verbundenheit, Abhängigkeit, Verpflichtung und der Glaube an eine Sinngebung und Bestimmung, sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft
• Mystik: die Erfahrung des „Heiligen“ bis zum Erlebnis von Einheitsgefühlen mit dieser Macht
• Mythos: die Welterklärung, -legitimation und -bewertung bis hin zur Annahme eines unheilen Zustands und eines Heils- und Erlösungsversprechens
• Moral: transzendent begründete Wertordnung aus Geboten und Verboten, die das Verhalten der Individuen zueinander, aber auch für sich selbst leiten sollen
• Ritus: symbolisch aufgeladene Handlungen oder Gegenstände beispielsweise zur Abweisung des Bösen, zu Heilungsversuchen, zur Reinigung oder für bestimmte Lebensphasen und -übergänge
• Gemeinschaft: die soziale Verbundenheit im geteilten und tradierten Glauben – in seinem Erleben und Ausdruck, seiner Erziehung und Verbreitung, seiner Interpretation und Bekräftigung bis hin zu seiner Organisation und Institutionalisierung
Diese sieben Merkmale sind stets mit dem Glauben an die Existenz transzendenter Entitäten verbunden. (Das ist selbst in der mehrheitlichen Praktizierung von Religionen wie dem Buddhismus so, in denen eigentlich kein Gott angebetet wird.) Eine solche Annahme transzendenter Wesen ist wichtig für eine Grenzziehung zum Nichtreligiösen. Andernfalls käme es zu irreführenden Vermischungen. Denn es gibt auch säkulare Glaubensdogmen und ultimative Bezogenheiten (etwa in rassistischen Ideologien), ekstatische Erlebnisse (zum Beispiel im Drogenrausch), Riten (wie Fahnen- und Jugendweihen), Gemeinschaften (von Parteien bis zu Fußballclubs) und deren Wertordnungen. Religion ist also nicht mit einem Naturalismus vereinbar, demzufolge nichts Außer- oder Übernatürliches existiert, auch wenn umgekehrt nicht jeder Antinaturalismus eine Religion ist.
Mit den genannten Merkmalen braucht kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben zu werden, auch wenn sie für die meisten praktischen Zwecke genügen dürften. Außerdem müssen nicht alle für jede Religion zwingend zutreffen, zumal die jeweilige „Gewichtung“ in den verschiedenen Religionen variiert. Dabei sind die Merkmale nicht präskriptiv (eine Bestimmung dessen, was Religion zu sein hat); das würde ohnehin zumindest eine naturwissenschaftliche Erforschung einschränken oder womöglich etwas erst konstruieren, das doch rekonstruiert werden soll. Sie müssen aber deskriptiv, adäquat und hinreichend umfassend sein, um nützlich zu sein.
Die additive Merkmalsbeschreibung von Religion macht deutlich, dass Religion und Religiosität kein einheitliches, gleichsam monolithisches Phänomen sind. Deshalb ist es denkbar und sogar wahrscheinlich, dass es keine universelle Erklärung mit jeweils spezifischen wissenschaftlichen Ansätzen gibt, etwa im Rahmen psychologischer, soziologischer, neuro- oder evolutionsbiologischer Perspektiven. Das heißt: Die einzelnen Merkmale „sind“ verschieden und sie „funktionieren“ auch verschieden. Damit ist ihre Realisierung in den Gehirnen verschieden, ebenso ihr bewusstes Erleben und ihre soziale Wirkung.
Für evolutionsbiologische Studien hat dies eine wichtige Konsequenz: Wenn ein Merkmal ein Anpassungsprodukt ist, bedeutet das nicht, dass es alle anderen Merkmale ebenfalls sind. Und das gilt entsprechend auch für die Erklärung von Merkmalen als Nebenprodukt anderer, adaptiver Merkmale oder aber als Folge der kulturellen Evolution. Was jeweils zutrifft ist eine offene Frage, zumindest beim gegenwärtigen Stand der Forschung. Vielleicht müssen die verschiedenen Merkmale unterschiedlich erklärt werden – möglicherweise sind manche rein kulturell, andere evolutionäre Anpassungsprodukte und wieder andere Nebenprodukte. Was der Fall ist, kann nicht durch begriffliche Analysen oder rein spekulativ entschieden werden, sondern ist eine empirisch zu klärende Frage. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass Biologen, Anthropologen und Psychologen sie nun verstärkt der Erforschung der Religiosität zuwenden.
Merkmale haben entweder einen direkten evolutionären Selektionsvorteil oder nicht. Dies gilt auch für die Religiosität. In der folgenden Tabelle fasse ich die wichtigsten Hypothesen zusammen, die gegenwärtig diskutiert werden.
Noch ist unklar, welche dieser Hypothesen die größte Überzeugungskraft hat und wie sich das empirisch ermitteln lässt. Außerdem ist die Einteilung stark vereinfacht. Denn Selektionsvorteile kann man auf verschiedenen Ebenen beschreiben, die sich nicht notwendig gegenseitig ausschließen müssen; aber es ist umstritten, inwiefern höherstufige Beschreibungen die „wirklichen“ Vorgänge angemessen abbilden und nicht nur einen heuristisch-pragmatischen Wert haben. Hinzu kommt die evolutionäre Dynamik: Was einst adaptiv war, muss es nicht mehr sein – und umgekehrt. Vor allem aber: „Religiosität“ ist, wie oben ausgeführt, eher als Bündel von Merkmalen denn als ein singuläres Merkmal anzusehen. Und wenn diese Merkmale hinreichend unabhängig voneinander existieren, können manche adaptiv, andere ein Nebenprodukt und wieder andere neutral sein.
Unumstritten ist, dass die Religionen selbst und die Religionszugehörigkeit eines Menschen keine direkten Anpassungs- oder Nebenprodukte der Evolution sind, sondern kulturell vermittelt werden. Die Religionszugehörigkeit ist hauptsächlich die Folge sozialer Prägung, meistens schon ab der frühen Kindheit. (Richard Dawkins hat die extremen Formen jeglicher dogmatischer Indoktrination als geistigen Kindesmissbrauch bezeichnet.) Dass eine solche Prägung wirkt, beruht freilich auf neuronalen Rahmenbedingungen, die ein Evolutionsprodukt sein können. Und dass sich ein Kind an den Anweisungen Älterer orientiert, besonders der Eltern, ist im Hinblick auf deren Erfahrungsvorsprung im allgemeinen vorteilhaft. Insofern wäre Religiosität als eine Prägung zum Glauben an Transzendentes ein Nebenprodukt dieser neuronalen und kognitiven Basis. Doch das ist nicht alles.
Wenn Religiosität im Allgemeinen einen direkten Anpassungswert besitzt oder wenn wenigstens bestimmte Merkmale der Religiosität einen solchen aufweisen, dann müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein: Nötig sind plausible Indizien für einen Reproduktionserfolg, für die Erblichkeit und physische Realisierung sowie ein Nachweis, worin der Selektionsvorteil besteht.
Im folgenden erläutere ich diese Kriterien und skizziere sehr kurz den aktuellen Forschungsstand. (Viele weitere Informationen und Angaben zu den Fachpublikationen enthalten die Literaturhinweise am Ende.)
• Reproduktionserfolg
Das Merkmal muss seinen Trägern mindestens mittelfristig eine höhere Fortpflanzungsrate bescheren. Die Merkmalsträger müssen im Durchschnitt und über eine viele Generationen hinweg also mehr Nachkommen haben als die innerartlichen Konkurrenten. Das ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für einen Selektionsvorteil.
In den letzten Jahrzehnten hatten religiöse Menschen überall auf der Welt im Durchschnitt mehr Nachkommen. Ob dies aber immer der Fall war, lässt sich nicht beweisen. Das ist allerdings eine entscheidende Frage, denn wenn Religiosität einen Selektionsvorteil hat, dann müsste sich der schon vor einigen 10000 bis 100000 Jahren ausgebildet haben. Es ist aber fraglich, ob Religiosität damals universell war oder, aus moderner Perspektive, ob es überhaupt viele Nichtreligiöse gegeben hat. Und selbstverständlich folgt aus einer höheren Kinderzahl nicht zwingend eine biologische Anpassung. Zudem spielen heute Faktoren wie Bildung und Einkommen eine entscheidende Rolle. (Bildung korreliert in der Regel mit weniger Kindern und geringerer Religiosität.) Ferner müsste nachgewiesen werden, dass die unterschiedlichen Reproduktionsraten statistisch signifikant mit der Ausbreitung von Genen einhergehen, die eine verstärkte Religiosität – oder einzelne Merkmale von dieser – bewirken. Allein, was die Häufigkeitsverteilung von Genen über Generationen hinweg und gerichtet verschiebt, lässt auf einen Selektionsdruck schließen. Eine durchschnittlich größere Reproduktion religiöser Menschen heute impliziert für sich genommen also noch gar nichts.
• Erblichkeit
Das Merkmal muss genetisch festgelegt sein. Denn nur was vererbt wird, kann ein Gegenstand der Selektion sein. Das heißt freilich nicht, dass die erblichen Merkmale stets unabhängig von Umwelteinflüssen ausgeprägt werden. Im Gegenteil: Gerade Fähigkeiten und Fertigkeiten des Denkens und Verhaltens hängen stark von prägenden Reizen ab. So ist die menschliche Sprachfähigkeit zwar angeboren, kann sich ohne eine „sprachliche Umwelt“ aber nicht entwickeln.
Es gibt Indizien dafür, dass Aspekte der Religiosität – besonders die Stärke von spirituellen Neigungen und von Autoritätsgläubigkeit – signifikant genetisch mitbedingt sind. Aber das bedeutet per se noch keinen Nachweis von Adaptivität. (Selbst genetisch völlig fixierte Merkmale wie Augenfarben können evolutionär neutral sein.) Für Religiosität als strenges Anpassungsmerkmal (wie es etwa der Besitz von Lungen ist) existiert kein Hinweis – und dann dürften die individuellen genetischen Unterschiede auch kaum variieren. Denn die Selektion reduziert die Variabilität und lässt oft gerade das übrig, was adaptiv keine große Rolle spielt.
• Realisierung
Das Merkmal muss eine (genetisch mitbedingte) physische Basis haben, sonst wäre es kein Teil der Natur und somit auch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden empirisch zu erforschen. Im Fall von Verhaltensmerkmalen sowie kognitiven Eigenschaften im weitesten Sinn muss das Merkmal also auf Strukturen und Vorgängen des Nervensystems basieren.
Dass der Glaube auf Gehirnprozessen beruht, ist weithin akzeptiert; und einige Aspekte davon wurden bereits entdeckt. Allerdings sind die meisten neuronalen Korrelate noch umstritten und, wie die kognitiven Eigenschaften, nicht unbedingt spezifisch für Religiosität oder deren verschiedene Einzelmerkmale. Außerdem ist die Existenz spezifischer Hirnvorgänge kein hinreichendes Argument für Adaptivität – zum Beispiel gibt es auch neuronale Korrelate für das Schreib- und Lesevermögen, die sogar selektiv ausfallen können (bei neurologischen Störungen wie Agraphie und Alexie), ohne dass sie eine evolutionäre Anpassung wären.
• Selektionsvorteil
Wodurch das Merkmal adaptiv ist, worin also sein Anpassungswert besteht, muss erkenntlich sein.
Es gibt zahlreiche Überlegungen, die den religiösen Glauben und den damit verbundenen Aufwand nicht als „überflüssigen Luxus“, sondern als vorteilhaft interpretieren. Besonders im Fokus der Forschung sind die folgenden Hypothesen (die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern sich vielmehr ergänzen und verstärken, aber auch situationsabhängig verändern können):
Individuell:
• Orientierung und Welterklärungen: Warum das, was ist, so ist, wie es ist und überhaupt ist.
• Kontingenzbewältigung: Trost und Schutz, Bedeutung und Erhöhung, Ordnung und Sinn angesichts von Leiden, Krankheit und Sterben, Armut, Elend, Ungerechtigkeiten und „dem Bösen“, Einsamkeit und Weltangst
• Glück und Gesundheit: psychisches Placebo, weniger Stress, bessere soziale Einbindung, Verringerung von Risiken
Individuell und sozial (durch die Beeinflussung anderer):
• Machthaber können damit ihre Macht gewinnen, rechtfertigen und erhalten.
• Moralische Vorschriften werden begründet und durchgesetzt – fast jede Religion verfügt über ein reiches Spektrum von Geboten und Verboten.
• Menschen werden motiviert und manipuliert – bis hin zu „heiligen Kriegen“ und dem Märtyrertum.
• Religion macht das Leben in den Gruppen, ja in großen Gesellschaften eventuell sicherer, harmonischer und effizienter.
• Gruppen lassen sich nach innen stabilisieren und nach außen abgrenzen.
• Kooperation – und somit Altruismus und Vertrauen – werden durch gemeinsame Religiosität gefördert, die auch eine Ausbeutung durch egoistische „Trittbrettfahrer“ weniger anfällig macht. Der wechselseitige Altruismus kann sowohl die natürliche Selektion begünstigen als auch die sexuelle Selektion, wenn die Partnerbindung langfristig gestärkt wird („Treue“ und Unterstützung), was wiederum der Reproduktion förderlich ist.
Religiosität (beziehungsweise einzelne Merkmale davon) hat unterschiedliche „Funktionen“, und darin könnten auch natürliche oder sexuelle Selektionsvorteile bestehen. In der folgenden Tabelle fasse ich einige der Adaptionshypothesen im Hinblick auf die verschiedenen Merkmale der Religiosität zusammen.
Zum Einfluss von Religiosität auf die Gesundheit gibt es viele Studien. Allerdings sind die Befunde nicht eindeutig. So muss man aufpassen, welche Vergleichsgruppen man jeweils analysiert – bestimmte Risikogruppen sind unter religiösen Menschen seltener vertreten und verzerren somit die Statistik. Außerdem haben religiöse Rituale auch gesundheitsschädliche Wirkungen – etwa durch rituelle Verstümmelungen. Ein weiteres Problem ist der psychische Druck und Stress in manchen Glaubensgemeinschaften, was Depressionen und Zwangserkrankungen verursachen kann. Und generell impliziert eine Korrelation noch keine Kausalität: Religion könnte dazu beitragen, dass es den Gläubigen besser geht, aber es könnte auch umgekehrt sein, dass glücklichere und gesündere Menschen sich eher einer Religion zuwenden oder dass es gemeinsame Ursachen gibt, etwa die soziale Einbindung.
Besonders für die Verbesserung der Kooperation durch Religionen existieren empirische Hinweise. Dies ist momentan die am vielversprechendste evolutionäre Hypothese. Inwiefern die Veranlagung zur Kooperation mit einer genetischen Basis für Religiosität korreliert, und ob das eher ein Indiz für eine direkte Anpassung ist oder sich auch als Nebenprodukt(e) adaptiver Merkmale verstehen lässt, wird allerdings kontrovers diskutiert.
Problematisch ist auch, was genau von der Religiosität Selektionsvorteile hat – falls es solche gibt. Denn es braucht nicht die Religiosität per se sein, sondern kann eines ihrer Merkmale sein, die eine evolutionäre Anpassung darstellt. Insofern ist die Frage nach einer Adaptivität der Religiosität vielleicht viel zu einfach oder gar falsch gestellt. In jedem Fall existiert noch keine gesicherte Antwort. Viele weitere Forschungen sind also nötig!
Fazit: Die Hypothese, dass Religiosität oder die damit verbundenden Merkmale eine evolutionäre Anpassung darstellen, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht zu entscheiden. Es gibt einige Argumente dafür, aber auch Probleme. Dasselbe gilt für die Deutung von Religiosität als – vielleicht unvermeidliches – Nebenprodukt anderweitig selektierter und somit adaptiver Merkmale.
Wenn religiöse Merkmale kein reines Neben- oder Kulturprodukt wären, sondern adaptive Eigenschaften hätten, bliebe immer noch zu klären, ob es eine ausbalancierte Selektion ist („nicht zu viel und nicht zu wenig Religiosität wäre am besten“) oder eine einseitig gerichtete („je religiöser, umso besser“). Beispielsweise könnte „ein bisschen“ abergläubisch zu sein Vorteile haben (Mustererkennung, Kreativität), aber zu viel schwere Nachteile (bis hin zu pathologischen Psychosen). Und eine gewisse Glaubensfestigkeit mag vor der Absurdität des Daseins schützen (oder ablenken), aber ein fundamentalistischer Wahrheitsanspruch kann Konflikte hervorrufen, die den Glaubenden selbst oder Anders- und Ungläubigen das Leben kosten. Denn selbst wenn etwas in der Vergangenheit nützlich war, kann es heute oder künftig schädlich sein!
Angenommen, Religiosität wird sich – trotz der zahlreichen wissenschaftlichen und konzeptuellen Probleme und offenen Fragen – mindestens teilweise als eine evolutionäre Anpassung erweisen: Was folgt daraus?
Weltanschaulich sicherlich weniger, als manche Gläubige erhoffen, die vielleicht (jedoch keineswegs alle!) eine Bestärkung oder gar Adelung ihrer Religiosität fühlen, wenn diese Selektionsvorteile hätte. Aber:
• Aus der (biologischen) Nützlichkeit folgt nicht die Wahrheit der religiösen Überzeugungen. Nützlichkeit ist nicht Wahrheit.
• Aus der Nützlichkeit folgt auch keine ethische Auszeichnung. Was nützlich ist, ist deshalb noch lange nicht auch (moralisch) gut.
• Wenn Religiosität einen Selektionsvorteil hat, dann kann erklärt werden, warum Religionen so weit verbreitet waren und noch sind. Atheisten und Agnostiker könnten sie dann als nützliche Illusion verstehen – und müssten sich überlegen, wie dem gegebenenfalls begegnet werden könnte.
Allerdings: Wenn etwas erklärbar ist, ist es allein deshalb nicht falsch oder inexistent. Das gilt auch für Religion und Religiosität. Eine biologische (oder auch anderweitige, etwa kulturelle) Erklärung ihres Entstehens und Fortbestehens beweist nicht, dass es keine transzendenten Mächte gibt (und selbstverständlich auch nicht das Gegenteil). Eine Antwort auf die Frage, warum Menschen an Gott (oder andere transzendente Mächte) glauben, beantwortet somit nicht die Frage, ob Gott existiert. Diese beiden Fragen müssen also sorgfältig unterschieden werden. Biologische Erkenntnisse sind in dieser Hinsicht unterbestimmt. Sie sind damit vereinbar, dass Gott ein Produkt unserer Einbildung ist, aber auch, dass er uns die Fähigkeit gab, ihn zu erkennen.
Religiosität ist in erster Linie ein Gegenstand des subjektiven “Fürwahrhaltens”, nicht der Psychologie, Hirnforschung, Genetik und Evolutionsbiologie. Kontext der Interpretationen ist die Lebenswelt. Das macht die Wahrheitsfrage jedoch nicht irrational oder obsolet – im Gegenteil. Aber sie stellt sich auf einer anderen Ebene: der der Philosophie. Und ihre Beantwortung erfordert die Methoden, die argumentativen Standards sowie die Einsichten der Philosophie (Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ontologie). Trotzdem haben die empirischen Erkenntnisse einen philosophischen Mehrwert. Es wäre also ignorant oder naiv, die Erkenntnisse der Evolutionspsychologie und Hirnforschung nicht zu berücksichtigen.
Soweit ich sehe, gibt es drei Arten von Quellen des Glaubens – also Ursachen beziehungsweise Gründe für eine religiöse Einstellung:
• Soziale Prägung: Die eigene Familie, Gruppe, Lebenswelt.
• Persönliches Erleben: Spirituelle, mystische etc. Bewusstseinszustände; Offenbarungen; das Studium heiliger Texte; das ästhetisches Erlebnis der Natur (etwa als Schöpfung) und so weiter.
• Rationale Analysen: Hermeneutische Quellenstudien; philosophische Argumente (strengste Form: „Gottesbeweise“).
Diese Quellen genauer zu erläutern, zu diskutieren und einer erkenntnistheoretischen Kritik zu unterziehen, würde an dieser Stelle zu weit gehen. Doch die Aufzählung dürfte genügen, um zu sehen, welche Bedeutung die Erkenntnisse der Evolutionspsychologie und Hirnforschung hier haben: Sie können beitragen zum besseren Verständnis, wie und warum die soziale Prägung funktioniert, was hinter dem persönlichen religiösen Erleben steckt (Hirngespinste?), und sie können zusammen mit philosophischen Argumenten die rationalen Analysen kritisieren beziehungsweise alternative Interpretationen eröffnen.
Fazit: Wenn Religionen nützlich sind, impliziert dies weder dass sie wahr sind noch dass sie gut sind. Um dies zu zeigen, wären zusätzliche, unabhängige Argumente und Indizien erforderlich.
* * *
(Bild oben: Die Gräuel der Kreuzzüge sind ein besonders schreckliches Beispiel religiöser "Kooperation" und ideologischer Mobilmachung. Das historische Gemälde zeigt Massenexekutionen und Kannibalismus während des Ersten Kreuzzugs im Dezember 1098 bei der Eroberung der Stadt Maarat an-Numan im heutigen Syrien. Raoul von Caen berichtete: "In Maara kochten unsere Leute die erwachsenen Heiden in Kesseln, zogen die Kinder auf Spieße und aßen sie geröstet.")
Angesichts des unermesslichen Leids, das auch im Namen von Religionen (und anderen Ideologien) weltweit verursacht wurde und weiterhin wird, geht die naturwissenschaftliche Erforschung der Religiosität und des blinden Glaubens über ein reines Erkenntnisinteresse weit hinaus. Denn wenn Religiosität einen Selektionsvorteil hätte, realisiert sich dieser auf Kosten anderer. Und da Religionen stark polarisierend wirken können, indem sie In- und Out-Groups definieren, bergen sie die Gefahr, durch fundamentalistische Dogmatismen ihre Anhänger dazu zu bringen, Andersdenkende zu massakrieren.
Mit den Worten des Physikers und Kosmologen Steven Weinberg: "Religion hat manches Gute in der Welt bewirkt, aber insgesamt sind ihre Folgen furchtbar. [...] Mit oder ohne Religion werden sich gute Menschen gut verhalten und schlechte Menschen werden Böses tun. Aber der Beitrag der Religion in der Geschichte war, es guten Menschen zu erlauben, Böses zu tun."
Rüdiger Vaas
Zum Weiterlesen
Publikationen des Autors zum Thema:
• Vaas, R. 2005a: Gott und Gehirn. In: Sahm, P. R. u. a. (Hrsg.): Der Mensch im Kosmos. Discorsi: Hamburg, 181-208.
• Vaas, R. 2005b: Hotline zum Himmel. bild der wissenschaft, 7: 30-38.
• Vaas, R. 2005c: Das Gottes-Gen. bild der wissenschaft, 7: 39-43.
• Vaas, R. 2006a: Das Münchhausen-Trilemma in der Erkenntnistheorie, Kosmologie und Metaphysik. In: Hilgendorf, E. (Hrsg.): Wissenschaft, Religion und Recht. Logos: Berlin, 441-474.
• Vaas, R. 2006b: Die Evolution der Religiosität. Universitas, 61: 1116-1137.
• Vaas, R. 2007a: Lohnender Luxus. bild der wissenschaft, 2: 34-41.
Weitere Infos hier: http://hpd.de/node/954 [7]
• Vaas, R. 2007b: Schutz vor Schmarotzern. bild der wissenschaft, 2: 42-45.
• Vaas, R. 2008: Schöne neue Neuro-Welt. Hirzel: Stuttgart.
Weitere Infos hier: http://www.marburger-forum.de/mafo/heft2008-5/va_de.html [8]
• Vaas, R. 2009: Die Evolution der Evolution. Universitas 64: 4-29.
Weitere Infos hier: http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/werden-und-vergehen [9]
• Vaas, R. im Druck: Gods, Gains, and Genes. In: Voland, E., Schiefenhövel, W. (Hrsg.): The Evolution of Religious Mind and Behavior. Springer: Heidelberg u. a.
Am ausführlichsten und aktuellsten ist das mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume veröffentlichte Buch:
• Rüdiger Vaas, Michael Blume: Gott, Gene und Gehirn. Hirzel: Stuttgart 2009. € 24,–
Weitere Infos hier: http://hpd.de/node/6104 [10]
Bestellen hier:
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-192-259.jpg
[2] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,1
[3] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,2
[4] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,3
[5] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,4
[6] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,5
[7] http://hpd.de/node/954
[8] http://www.marburger-forum.de/mafo/heft2008-5/va_de.html
[9] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/werden-und-vergehen
[10] http://hpd.de/node/6104
[11] http://www.denkladen.de/advanced_search_result.php?XTCsid=8abd0745362f7230ce140a057cbb503d&keywords=vaas