
Ethik | 01.12.2010
...sagte Oscar Wilde. Ein Philosoph bemüht sich nämlich, die Moral von außerhalb der Moralordnung seiner Gesellschaft zu analysieren. In der Regel gelingt ihm das nicht. Aber man kann es ja einmal versuchen.
Ist das Christentum die Grundlage der Moral?
Woher kommt die Moral? Was ist ihr Fundament? Ist es das Christentum?
Laut dem Anthropologen David Eller entspricht die Behauptung, das Christentum sei die einzige Grundlage der Moral der Auffassung, Englisch wäre die einzige Grundlage der Grammatik. Am Ende der Anglizismen-Invasion könnte das allerdings zutreffen, insofern hätte Eller besser ein anderes Beispiel gewählt.
Der Vollständigkeit halber sei trotzdem angemerkt, dass es noch weitere Kandidaten gibt für den Platz des Moral-Fundaments oder der grundierenden Moral-Säule, oder des Humus, welcher alle Moral nährt, des Moral-Softdrinks, der durstige Schüler in der großen Pause stärkt.
Laut Eller leistet die Religion der Moral einen besonderen Dienst: Sie nimmt die Autorität, die Verantwortung für Regeln und Institutionen aus den Händen des Menschen. Sie entmündigt ihn. Die Religion leistet der Moral einen Bärendienst. Die Philosophie entführt die Moral aus himmlischen Gefielden und bringt sie auf die Erde zurück. Die Philosophie gibt uns Verantwortung und Freiheit.
Moral ist überall
[2]Alles ist Moral, so wie alles Politik ist. Insofern ist nicht alles Moral. Trotzdem ist Moral von einiger Wichtigkeit, was man alleine daran erkennt, wie viele Bücher über das Thema geschrieben worden sind. Zugegeben sind auch viele Bücher über Paris Hilton geschrieben worden, aber die Moral beschäftigt Philosophen schon seit vielen Jahrtausenden und hat insofern einen Vorsprung.
Wie gelangen wir zu unseren moralischen Ansichten? Anthropologen machen auf den erstaunlichen Zufall aufmerksam, dass wir dazu neigen, das Moralsystem der Gesellschaft zu teilen, in der wir leben. Beispielsweise wäre in Deutschland so gut wie jeder Mensch schockiert, wenn sich jemand einen Berggorilla schnappen und ihn aufessen würde, aber in Frankreich gehört das zum guten Ton (oder in manchen Teilen Afrikas).
Versteht man Moral als Sammelsurium von Verhaltensstandards, dann gibt es nicht nur verschiedene Moralitäten in verschiedenen Gesellschaften, sondern auch Moralitäten darin und dazwischen, beispielsweise gibt es eine Geschäftsmoral (Verträge einhalten), eine Öffentliches-Schwimmbad-Moral (z.B. darf man als Mann nicht in die Damenkabine schauen), eine Fast-Food-Restaurant-Moral (man darf hingehen, aber nicht zugeben, dass man dort war), eine Protestmarsch-Moral (man muss so tun, als wüsste man, worum es geht), eine Modernes-Theater-Moral (man unterdrücke das Gelächter beim Anblick von Iphigenie in Alufolie). Es gibt religiöse Moralitäten (wie man sie von großen Vorbildern wie Albert Schweizer kennt) und es gibt nicht-religiöse Moralitäten (Josef Stalin wäre das repräsentive Beispiel).
Was ist Moral?
Wenn Ihnen die Definition von Moral als Verhaltensstandard nicht gefällt, gibt es weitere Definitionen im Angebot: „Moral bezieht sich auf richtige und falsche Gedanken und Verhaltensweisen im Kontext der Regeln einer sozialen Gruppe.“ Oder die hier: „Der moralische Diskurs versucht die Frage zu beantworten: Was sollte getan werden?“ Und zu guter Letzt: „Moral dient dazu, das Benehmen zu leiten und Verhalten oder Haltungen zu verändern.“
Für Anthropologen sind „moralisch“ und „unmoralisch“ zwei Etiketten, die Verhaltensweisen angeheftet werden können, je nachdem, inwiefern sie den Gruppenstandards entsprechen. Zum selben Zweck kann man auch andere Etiketten gebrauchen: Legal / Illegal, Vernünftig / Verrückt, Normal / Abnormal, Freundlich / Unfreundlich, und so weiter.
Es gibt jedoch etwas, das der Moral vorausgeht. Im Fall von heimlichen Bordellbesuchen des lüsternen Ehemannes ist es zum Beispiel der Sexualtrieb, aber gemeint sind hier „vormoralische Empfindungen“. Michael Shermer zählt folgende Eigenschaften dazu:
Anhänglichkeit und Bindung, Kooperation und gegenseitige Hilfe, Mitgefühl und Sympathie, direkte und indirekte Reziprozität, Altruismus und gegenseitiger Altruismus, Konfliktlösung und Friedenschließen, Täuschung und Täuschungserkennung, Sorge um die Gemeinde und Sorge darum, was andere über dich denken, Bekanntheit mit und Antwort auf die sozialen Regeln der Gruppe.
Auf Grundlage dieser natürlichen vormoralischen Empfindungen sind beim Menschen kulturell verschiedene Moralitäten entstanden. Die meisten der vormoralischen Empfindungen, vielleicht alle, gibt es auch bei Menschenaffen.
Moral ohne Religion
[3]Es gibt verschiedene philosophische Ansätze für eine Moralbegründung:
1.) Die „natürliche“, „objektive“ oder „reale“ Moral. Demnach ist Moral für alle Menschen objektiv begründbar. Zum Beispiel argumentierte der Philosoph Lord Shaftesbury, dass wir einen „moralischen Sinn“ hätten, der heute als „Gewissen“ bekannt ist. Die Stimme unseres Gewissens treibt uns dazu, aus Eigennutz die allgemeine Harmonie anzustreben. In unserer Zeit argumentieren die Philosophen Sam Harris [4] und Richard Carrier [5] für eine objektive Ethik. David Eller widerspricht diesem Ansatz, weil Moral zu verschiedenartig sei und zu widersprüchlich, um natürlich, real, oder objektiv sein zu können. Es gebe überhaupt keine Übereinstimmung über moralische Antworten, nicht einmal über moralische Fragen.
2.) Die rationalistisch begründete Moral. Man beginnt bei den relevanten Fakten, wendet Logik und kritisches Denken auf sie an, gewichtet die Alternativen und wählt die „moralische“ Handlungsweise. David Eller hält diesen Ansatz für ebenso angreifbar wie die anderen, weil sich die Frage auftut, was die relevanten Fakten sind und wie man die Alternativen gewichten soll.
Er nennt als Beispiel die Frage, ob und wann Abtreibung moralisch akzeptabel ist. Ein Rationalist gab ihm folgende Antwort: Ein Fötus hat kein vollständiges und funktionierendes Gehirn, nur Lebewesen mit vollständigen und funktionierenden Gehirnen sind Personen und darum ist es moralisch akzeptabel, einen Fötus zu töten. Das Problem mit dieser Art von Schlussfolgerung bestehe darin, dass die Grundlagen der Debatte einfach vorausgesetzt würden (ist ein vollständiges und funktionierendes Gehirn die Voraussetzung für den Personenstatus und ist ein Mangel des Personenstatus eine Rechtfertigung fürs Töten?). Zudem werden Fragen nach Interessens- und Wertekonflikten ausgelassen. Was ist, wenn der Vater des Kindes gegen die Abtreibung ist, obwohl es sich nur um einen Fötus handelt?
3.) Eigennutz, Interessensethik. Der informierte Egoismus sollte als Richtlinie des Handelns dienen. Dies besagt zum Beispiel Ayn Rands „Objektivismus“ oder Adam Smiths Vorstellung von einer unsichtbaren Hand, laut der eigennütziges Handeln letztlich dem Wohl der Allgemeinheit dient, insofern Individuen im Rahmen ihrer ethischen Gefühle handeln, um ihr persönliches Glück zu erhöhen (Smiths Betonung der ethischen Gefühle, des Gewissens, wird gerne übersehen, gehört aber zu einer zwingenden Voraussetzung für die Wirksamkeit der unsichbaren Hand!).
4.) Utilitarismus: Die Vermeidung von Leid und das Anstreben von Glück für die größte Zahl von Menschen oder von leidensfähigen Lebewesen. Der Utilitarismus ist konsequenzialistisch. Der Konsequenzialismus besagt, dass nur die Folgen von Handlungen ethisch relevant sind. Sam Harris argumentiert, dass eigentlich alle ethischen Ansätze konsequenzialistisch seien und letzten Endes alle das Wohl der Menschen anstrebten. Viele irrten sich nur darüber, wie das zu bewerkstelligen sei. Die Tatsache, dass moralische Entscheidungen manchmal Schmerz verursachen und die Gewichtung von Glück und Leid (z.B. meine gegen deine) sind Probleme, die der Utilitarismus lösen muss.
5.) Pflichtethik (deontologische Ethik): Laut Immanuel Kant sind bestimmte Handlungen „kategorische Imperative“, also ist von uns einfach verlangt, dass wir bestimmte Dinge tun. Wir sollten uns an den Maximen orientieren, die unseren Handlungen zugrunde liegen, beispielsweise widerspricht unserer Neigung, ein geschätztes Gut zu stehlen, die Maxime „du sollst nicht stehlen“. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Demnach sind besimmte Handlungen „an sich“ richtig oder falsch. Friedrich Schiller hat sich einst darüber lustig gemacht, dass wir unseren Freunden laut Kant nur aus kühlem Pflichtbewusstsein wohlgesonnen sein sollen.
6.) Tugendethik: Eine Tugend ist eine edle, beständige Charaktereigenschaft und eine Tugend liegt laut Aristoteles stets zwischen zwei Lastern. Im Falle von Mut sind die Laster Feigheit und Vermessenheit. Die höchste Tugend war für Aristoteles die Weisheit, nachgeordnet sind Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Freigebigkeit, Hilfsbereitschaft, Seelengröße, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit und Einfühlsamkeit. Was die entscheidenden Tugenden sind, hängt von den Umständen ab, aber sie dienen letztlich der Vervollkommnung des Menschen auf Grundlage seiner Natur, damit er die Harmonie mit sich selbst erreichen kann. Das Ziel ist die Glückseligkeit des Menschen. Tugenden werden durch die Vernunft bestimmt und durch Erziehung und Übung antrainiert. Wer tugendhaft lebt, lebt als Begleiteffekt glücklicher.
7.) Kontraktualismus: Eine Vertragsethik, die auf Rousseaus Idee eines „Gesellschaftsvertrags“ zurückgeht. Laut John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ sollen wir einen „Schleier des Nichtwissens“ anlegen, um faire Gesellschaftsverträge abzuschließen. Man sollte davon ausgehen, dass man in jeder beliebigen Gesellschaftsschicht geboren werden könnte, mit allen möglichen Anlagen, man könnte Frau oder Mann sein, und jeder Ethnie angehören. Auf Grundlage dieser „blinden“ Perspektive gestaltet man die Gesellschaft so, dass sie gerecht ist.
8.) Andere Ansätze sind Menschenrechte (oder Naturrechte), Gerechtigkeit oder Fairness. Auch ein Kontraktualist oder ein Utilitarist könnte Menschenrechte adoptieren, wenn er davon ausgeht, dass sie die Gesellschaft gerechter machen oder dazu beitragen, Leid zu vermeiden und Glück zu fördern. Wie man sieht, sind die verschiedenen Ansätze verwandt und es gibt einen Austausch untereinander.
Ethischer Relativismus
Der „moderate“ ethische Relativismus besagt lediglich, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Moralvorstellungen haben, was eine recht banale Feststellung ist. Der radikale ethische Relativismus besagt, dass es keine Möglichkeit gibt, unterschiedliche moralische Vorstellungen zu bewerten. Demnach sind alle Moralitäten gleich gut. Im Extremfall müsste ein ethischer Relativist sagen, dass Hexenverbrennung ebenso ethisch ist wie der Muttertag.
David Eller bezweifelt tatsächlich alle Möglichkeiten, wie man Ethik normativ festlegen könnte. „Ein moralisches System könnte auf einer Tradition beruhen oder auf einer populären Meinung oder auf Mehrheitswahl oder auf irgendeiner Theorie (wie Marxismus) oder, am Ende, Gewalt. Keine davon ist eine sehr angemessene Grundlage, weil wir 1) uns uneinig sein könnten und 2) weil wir falsch liegen könnten.“
Trotzdem lehnt er eine religiös begründete Moral ab. Er erklärt zum Beispiel, die rationalistische Moral sei der religiös begründeten „oftmals überlegen“. Die menschliche Moral wäre „besser dran ohne religiöse Ergänzungen“. Aus seiner eigenen relativistischen Perspektive hat er eigentlich kein Recht, das zu sagen. Und hier sieht man einmal mehr, dass ethische Relativisten keine sind, sondern dass sie diese Position nur ergreifen, wenn sie damit überfordert sind, ethische Fragen zu beantworten, oder wenn ihnen diese Haltung persönliche Vorteile verschafft. Dies ist etwa so, wenn man sich vor Terroristen fürchtet und aus Furcht behauptet, dass die Kultur von Islamisten genauso gut wäre wie die des Westens. Würden ethische Relativisten es wirklich für gleichermaßen ethisch halten, ihrer Tochter ein Auto zu kaufen und sie dem Gott Baal zu opfern, warum opfern dann so wenige ethische Relativisten ihre Tochter dem Gott Baal? Weil sie dafür ins Gefängnis kommen? Aber wer sagt denn, dass es nicht moralisch wünschenswert wäre, ins Gefängnis zu kommen?
Der radikale ethische Relativismus ist eine absurde Position, aber er ist die Ethik der meisten Anthropologen, wie Sam Harris in The Moral Landscape [6] aufzeigt. Der Grund, warum David Eller an den ethischen Relativismus glaubt, liegt also wahrscheinlich darin, dass seine soziale Gruppe daran glaubt, weil es zu ihrer Kultur gehört. In seinem Buch Sick Societies. Challenging the Myth of Primitive Harmony [7] zeigt der Anthropologe Robert Edgerton, der zu den Abweichlern zählt, auf, wie Anthropologen Naturvölker glorifiziert haben und ihre Fehler den Kolonialherren in die Schuhe schoben. Bald verloren sie jede Fähigkeit zur ethischen Differenzierung. 1939 sagte ein prominenter Anthropologe der Harvard-Universität, dass die Urteilsverweigerung „wahrscheinlich der bedeutsamste Beitrag gewesen ist, den anthropologische Studien zum Allgemeinwissen gemacht haben“. Man könnte ihn auch das Ende der Moral nennen, oder das Ende jeglicher Ethik. Zum Glück sind noch immer viele Menschen nicht so „allgemeingebildet“, um dergleichen Dinge zu glauben.
Die traditionelle Religion hat gegenüber dem ethischen Relativismus den Vorteil, dass sie wenigstens irgendwelche moralischen Urteile ermöglicht. In diesem Artikel wurden jedoch zahlreiche bessere Alternativen aufgezeigt, welche die Philosophie anbietet, sodass sich niemand länger mit Gott oder Beliebigkeit herausreden kann.
AM
Bildquellen
Foto von Paris Hilton: Glenn Francis, Wikipedia [8]
Bild-Cover über Stalins Affenmenschen: Bild-Blog [3]
Literatur
Jack David Eller: Cruel Creeds, Virtuous Violence: Religious Violence Across Culture and History [9]
Robert Edgerton: Sick Societies. Challenging the Myth of Primitive Harmony [10]
Sam Harris: The Moral Landscape [11]
Verschiedene Autoren: The Christian Delusion [12]
Der Christenwahn: Die Reihe
Christlicher Glaube aus Sicht der Kognitionswissenschaften [14]
Die Formbarkeit des menschlichen Verstandes [15]
Alles Denken ist unmoralisch
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-503-912.jpg
[2] http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Paris_Hilton_3_Crop.jpg&filetimestamp=20100917172356
[3] http://www.bildblog.de/1029/apropos-king-kong/
[4] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/eine-landschaft-moral
[5] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/ethik-fuer-alle
[6] http://www.amazon.de/Moral-Landscape-Science-Determine-Values/dp/1451612788/
[7] http://www.amazon.de/Sick-Societies-Challenging-Primitive-Harmony/dp/0029089255/
[8] http://paris%20hilton%20oder%20moral/?%20Treffen%20Sie%20jetzt%20keine%20voreiligen%20Entscheidungen%21%20%20%28Foto:%20Glenn%20Francis,%20http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Paris_Hilton_3_Crop.jpg&filetimestamp=20100917172356%29
[9] http://www.amazon.de/Cruel-Creeds-Virtuous-Violence-Religious/dp/1616142189/
[10] http://www.amazon.de/Sick-Societies-Challenging-Primitive-Harmony/dp/0029089255
[11] http://www.amazon.de/Moral-Landscape-Science-Determine-Values/dp/1451612788
[12] http://www.amazon.de/Christian-Delusion-Why-Faith-Fails/dp/1616141689/
[13] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/christentum-als-kultur
[14] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/christlicher-glaube-aus-sicht-kognitionswissenschaften
[15] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/formbarkeit-menschlichen-verstandes