Evolution der Religiosität | 20.04.2009
Der Biophilosoph Prof. Edgar Dahl kritisiert im Folgenden die adaptive Theorie zur Evolution der Religiosität, wie sie von dem Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume vertreten wird. Ein spannender Höhepunkt der schon länger andauernden Auseinandersetzung der beiden Wissenschaftler. Gehört die Religiosität wirklich zur Natur des Menschen, wie etwa die Sprachfähigkeit, oder ist sie nur ein Nebenprodukt anderer natürlicher Anlagen?
In einer kürzlichen Ausgabe des Nachrichtenmagazins FOCUS findet sich unter dem Titel „Fruchtbarer Glaube“ eine ausgezeichnete Besprechung von Rüdiger Vaas’ und Michael Blumes Buch „Gott, Gene und Gehirn: Warum Glaube nützt“. Die beiden Autoren haben die wohlwollende Rezension mehr als verdient. Denn es ist ihnen gelungen, einen wunderbaren Überblick zur Evolution der Religiosität zu geben. Zudem ist ihr Buch einfach, anschaulich, ja geradezu elegant geschrieben. [2]
Obgleich ich dem Buch eine große Verbreitung wünsche, möchte ich an dieser Stelle doch einige kritische Anmerkungen zu der Rezension im FOCUS machen. Die Besprechung leidet bedauerlicherweise darunter, dass sie weder den weltanschaulichen noch den wissenschaftlichen Differenzen der Ko-Autoren Rechnung trägt. Denn in dem FOCUS-Artikel wird leider nur Michael Blumes Sicht der Dinge dargestellt. Dies ist insofern fatal, als es eine falschen Eindruck vom überaus ausgewogenen Buch vermittelt und Rüdiger Vaas mitunter Ansichten unterstellt, die eigentlich nur von Michael Blume vertreten werden.
Wie dem auch sei, in meinen Augen überschätzt Michael Blume die Rolle der Religiosität! Gewiss, genau wie die Musikalität, so ist auch die Religiosität universal. Und: Genau wie die Musikalität, so ist auch die Religiosität hereditär. Mit anderen Worten: Wir Menschen kommen fraglos alle mit einer gewissen Disposition zur Religiosität zur Welt.
[3]Dennoch: Wie bei der Musikalität, so ist es auch bei der Religiosität mehr als zweifelhaft, ob sie ein direktes Produkt der natürlichen Selektion darstellt. Vieles spricht dafür, dass sowohl die Musikalität als auch die Religiosität bloße Epiphänomene unseres kognitiven Apparates sind – biologische Nebenprodukte, die mit der Evolution des präfrontalen Cortex einhergegangen sind.
Während Richard Dawkins die Religiosität denn auch als ein bloßes Epiphänomen betracht, behauptet Michael Blume dagegen, dass die Religiosität eine echte Adaptation sei. Um die Adaptivität der Religiosität unter Beweis zu stellen, verweist er auf eine Vielzahl demographischer Untersuchungen, die belegen, dass religiöse Menschen nachweislich mehr Nachkommen hinterlassen als areligiöse.
Obwohl ich an der Richtigkeit der religionsdemographischen Befunde in keiner Weise zweifle, beweisen sie in meinen Augen doch bei weitem nicht, was sie beweisen sollen. Warum? Ich will das an einem Beispiel aus dem Buch erklären. Darin berichtet Michael Blume unter anderem über die christlichen Sekten der Shaker und der Amish. Während die Gemeinden der Amish blühen, sterben die Gemeinden der Shaker aus.
Nach der Logik von Michael Blume sollte dies daran liegen, dass die Shaker einfach weniger religiös sind als die Amish. Sind sie aber mit Sicherheit nicht! Die Shaker sind mindestens genauso fromm wie die Amish. Der wahre Unterschied zwischen den beiden Sekten besteht nicht in ihrer unterschiedlichen Religiosität, sondern in ihrer unterschiedlichen Moralität – speziell in ihrer unterschiedlichen Sexualethik: Während die Amish nämlich dem Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch!“ folgen, gehorchen die Shaker dem Gebot der Enthaltsamkeit.
Es ist also keineswegs die Religiosität als solche, sondern ausschließlich die Moralität, die darüber entscheidet, ob sich ihre Anhänger erfolgreich fortpflanzen oder nicht. Mit anderen Worten: Der Kindersegen einiger religiöser Sekten wie der der Amish lässt sich bereits allein aus ihrer Sexualethik erklären – aus ihrer Einstellung zu Ehe, Familie, Kinder, Scheidung, Verhütung und Abtreibung.
Meine zweite kritische Anmerkung betrifft die Gleichsetzung der Fertilität und der Adaptvität einer Religion. Auf der Grundlage einer Volkszählung aus dem Jahr 2000 pflanzen sich in der Schweiz die Hindus am erfolgreichsten fort, gefolgt von den Muslimen, den Juden, den Buddhisten, den Katholiken und den Protestanten. Die Konfessionslosen bilden dagegen das Schlusslicht.
Was will uns Michael Blume damit sagen? Dass der Hinduismus „adaptiver“ als der Katholizismus sei? Doch wer sagt, dass die verschiedenen Formen der Religiosität überhaupt adaptiv sind? Wenn die Anhänger verschiedener Religionen unterschiedlich viele Kinder zeugen, liegt dies sehr wahrscheinlich nicht an den Dogmen ihrer Religion, wie etwa dem Karma, dem Nirvana oder der Trinität, sondern allein an der Sexualethik ihrer Religion.
Wäre die Religion nicht ein Produkt der kulturellen Evolution, sondern ein Produkt der natürlichen Selektion sollten die Konfessionslosen, Agnostiker, Skeptiker und Atheisten längst am Aussterben sein. Schließlich zeugen sie weit weniger Kinder. Wir brauchen uns jedoch in Europa nur umzusehen, um zu entdecken, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Trotz ihrer reproduktiven Zurückhaltung sind die Ungläubigen in ganz Westeuropa auf dem Vormarsch.
Wie kommt das? Um noch einmal den Vergleich zwischen Religiosität und Musikalität zu bemühen: Auch wenn sich die Musiker von Heavy Metal Bands erfolgreicher fortpflanzen sollten als die von Kammerorchestern – es ist die kulturelle, nicht die natürliche Selektion, die über den „differentiellen Reproduktionserfolg“ einer Musikrichtung entscheidet.
Meine dritte und letzte kritische Anmerkung betrifft die von Michael Blume angestellte Vermutung, dass die Religiosität möglicherweise auch ein Produkt der sexuellen Selektion sein könne. Was soll das bedeuten? Das soll bedeuten, dass sich die Religiosität im Laufe der Evolution vielleicht deshalb ausgebreitet hat, weil Frauen religiösen Männern gegenüber areligiösen Männern sexuell den Vorzug gegeben haben.
So wird in der Rezension des FOCUS denn beispielsweise auch kurz auf die berühmte „Gretchenfrage“ angespielt. Im „Faust“ lässt Goethe das Gretchen fragen: „Nun sag, wie hast du es mit der Religion?“, und Mephistopheles kommentiert: „Die Mädels sind doch sehr interessiert, ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch.“
Dass die Religiosität ein Produkt der sexuellen Selektion sein könnte, ist ein ebenso interessanter wie charmanter Gedanke. Doch ist es wirklich plausibel anzunehmen, dass der evangelische Bischof Huber auch nur annähernd so attraktiv auf Frauen wirkt wie der agnostische Schauspieler George Clooney?
Glücklicherweise müssen wir uns hier nicht mit bloßen Spekulationen begnügen. Der Psychologe David M. Buss von der University of Texas at Austin hat über 10.000 Männer und Frauen aus 37 verschiedenen Kulturen nach ihren Partnerwahlkriterien befragt. Während „freundlich“, „attraktiv“ und „intelligent“ auf der Wunschliste ganz oben standen, befanden sich „fromm“, „keusch“ und „religiös“ am Ende der Liste.
Egar Dahl
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-254-419.jpg
[2] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p1081_Vaas---Blume--Gott--Gene-und-Gehirn.html/XTCsid/da2082edb87f601422568d566ae31966
[3] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p1070_Dawkins--Der-Gotteswahn--kt.html/XTCsid/30836f7c766ddbb8d0cf3612e776d395
[4] http://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/libertarian
[5] http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens