Wissenschaft und Religion | 17.03.2009
Michael Schmidt-Salomon analysiert in dieser Replik auf Reinhold Leinfelders Blogbeitrag [2] den prinzipiellen Widerspruch zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungsglauben und erklärt, warum eine Bagatellisierung der Evolutionstheorie, so verlockend sie auch erscheinen mag, intellektuell unredlich ist.
Große Ideen laden zu großem Missbrauch ein. Dies lässt sich nicht zuletzt an Darwins Evolutionstheorie aufzeigen, die immer wieder missbraucht wurde, um soziale Ungerechtigkeit, ja sogar rassistisch motivierte Massenmorde zu legitimieren. Hat man die Geschichte dieser Instrumentalisierung im Blick, mag es verständlich erscheinen, dass manche Wissenschaftler und Philosophen eifrig bemüht sind, die gesellschaftliche Relevanz der Evolutionstheorie herunterspielen. Allerdings leisten sie mit ihrer Bagatellisierung der Evolutionstheorie dem Projekt der Aufklärung einen Bärendienst.
Wie weit das Streben nach einer „Entdarwinisierung“ Darwins gehen kann, zeigte ein Evolutions-Kongress, der Anfang März an der päpstlichen Universität Gregoriana stattfand. Finanziert von der religiös ausgerichteten Tempelton Foundation trafen in Rom renommierte Wissenschaftler, Philosophen und Theologen zusammen, um die Bedeutung der Evolutionstheorie zu ergründen. In den Medien wurde als zentrales Ergebnis der Tagung gefeiert, dass sich der Vatikan nun offenkundig sehr entschieden vom Kreationismus abgegrenzt und Evolution als Tatsache anerkannt habe. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß erklärte im Spiegelonline-Interview [3] sogar, dass sich auf dem Kongress „kein richtiger Disput“ zwischen Evolutionsbiologen und Theologen entwickelt habe. Dies habe einen guten Grund, meinte Mittelstraß, denn die Kirche müsse mit „Darwin nicht ihren Frieden machen – sie hat sich nie im Kriegszustand mit ihm befunden“. Und das sei nach Ansicht des Philosophen auch vernünftig, denn: „Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Welt zu erklären – Aufgabe des Glaubens, das menschliche Leben zu stabilisieren und zu orientieren.“
Die Kirche hat die Evolutionstheorie nie voll anerkannt
So sehr ich Mittelstraß ansonsten wertschätze, hier irrt er gewaltig. Zwar stimmt es, dass Charles Darwins Werk – im Unterschied etwa zum wegweisenden Buch seines Großvaters Erasmus Darwin „Zoonomia or The Laws of Organic Life“ – nicht auf dem Index der verbotenen Schriften landete. Das heißt jedoch noch nicht, dass der Vatikan die Evolutionstheorie je wirklich akzeptiert hätte.
Da die Kirche im 19. Jahrhundert nicht mehr über die Machtmittel verfügte, mit deren Hilfe sie zuvor Galilei und Bruno zum Schweigen gebracht hatte, waren ihre Hände gebunden. Sie verurteilte den Naturalismus zwar von Anfang an als „Irrlehre“ (etwa im „Syllabus“ von 1864), setzte jedoch ansonsten im Umgang mit dem evolutionären Erklärungsmodell auf das Instrument der Ignoranz bzw. der Bagatellisierung. Nach fast einem Jahrhundert Sendepause war Pius XII. der erste Papst, der sich öffentlich dezidiert zur Deszendenztheorie äußerte. In seinem Rundschreiben „Humani Generis“ von 1950 erklärte er, dass eine Beschäftigung mit der „Entwicklungslehre“ unter bestimmten Bedingungen legitim sei. Dabei ließ Pius allerdings die Frage offen, ob der Mensch sich „seinem Leibe nach“ tatsächlich aus dem Tierreich entwickelt habe. In Bezug auf die „Seele“ und die sog. „höheren geistigen Fähigkeiten des Menschen“ definierte der Papst jedoch einen klaren Standpunkt: Was die „Seele“ betrifft, so Pius XII., müsse der katholische Gläubige unbedingt daran festhalten, „dass sie unmittelbar von Gott geschaffen ist.“
Im Grunde hat sich an dieser Haltung der Kirche bis heute wenig verändert. Der einzig erkennbare Fortschritt besteht darin, dass der Vatikan mittlerweile die körperliche Herkunft des Menschen aus dem Tierreich nicht mehr als „offene Frage“ begreift, sondern seit Johannes Paul II. als „Tatsache“. Weiterhin wird jedoch jede evolutionäre Erklärung der „seelischen“, d.h. der psychischen, kognitiven und affektiven Merkmale von Homo sapiens vehement bestritten, obgleich Darwin in seinen Werken „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ und „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ gerade auch auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hatte.
Die scheinbare Abgrenzung vom Kreationismus
Insofern lässt sich sagen, dass die Kirche sich bestenfalls mit einem „halbierten Darwin“ angefreundet hat. Mehr wird man von ihr allerdings auch nicht erwarten können, da eine vollständige Akzeptanz der Evolutionstheorie das tradierte Glaubenssystem unweigerlich zum Einsturz bringen würde. Denn die christliche Theologie ist notwendigerweise an den Glauben an einen Schöpfergott verknüpft, der mit seiner Schöpfung einen besonderen „Heilsplan“ verfolgt, was mit einem sinnblinden evolutionären Prozess, bei dem durch Zufall und Notwendigkeit Arten entstehen und untergehen, prinzipiell nicht in Einklang zu bringen ist.
Wenn die Kirche sich also vom „Kreationismus“ abgrenzt, so kann damit nur jener engstirnige biblische Kreationismus gemeint sein, der entgegen aller empirischen Belege die Tatsache des Jahrmillionen währenden Entwicklungsprozesses leugnet. „Kreationistisch“ im Sinne von „schöpfungsgläubig“ muss die Kirche jedoch weiterhin argumentieren, schließlich ist der christliche Glaube, die Lehre von „Erbsünde“ und „Erlösung“, nur unter der Voraussetzung möglich, dass Gott mit seiner Schöpfung Ziele verfolgt! Theologen kommen also gar nicht umhin, auf die Fiktion eines göttlichen Designers, eines hinter den Dingen wirkenden Lenkers und Planers der Evolution, zurückzugreifen, wenn ihr Glaube mehr sein soll als eine inhaltsleere Ansammlung fromm klingender Phrasen.
Allwissender Schöpfergott – aber kein Intelligent-Design
Insofern ist die Abgrenzung des christlichen Konzepts einer theistischen Evolution vom „Intelligent Design“-Ansatz äußerst schwierig, was nicht nur Kardinal Schönborn dereinst in arge Verlegenheit brachte. Im Grunde unterscheiden sich die beiden Konzepte nämlich nur in der jeweils gewählten Kommunikationsstrategie! Während Intelligent-Design-Theoretiker danach streben, mit ihren religiösen Vorstellungen in die wissenschaftliche Forschung hineinzuwirken, setzen Vatikan-Theoretiker auf eine strikte Trennung von Wissenschaft und Glauben!
Wissenschaftliches Denken und religiöser Glauben sollen nach Auffassung führender katholischer (aber auch evangelischer) Theologen als zwei Seiten einer Medaille begriffen werden, d.h. als kompatible „Wahrheitssysteme“ mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen, wobei die eine damit betraut ist, die Welt zu erklären, und die andere, den Menschen Orientierung zu geben. Was Mittelstraß in seinem Interview bekundete, deckt sich insofern völlig mit der Position des Vatikans.
Der Trick des Kompatibilismus
Nun kann eine solche Arbeitsteilung allerdings nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass die Kompatibilität von religiösen Orientierungsangeboten und wissenschaftlichen Erklärungsmodellen nicht in Zweifel gezogen wird. Also versuchen Kompatibilisten schon seit längerem, jegliche Infragestellung des Kompatibilismus als „unzulässige Grenzüberschreitung“ zu diffamieren. Eine Strategie, die medial überaus erfolgreich war: Mittlerweile wird jeder, der gegen das stillschweigende, religiös-wissenschaftliche „Nichtangriffsabkommen“ verstößt, als „Störenfried“ empfunden. Deshalb machen sich in den Augen der meisten Journalisten nicht nur Intelligent-Design-Vertreter schuldig, „in fremdem Gebieten zu wildern“, sondern auch alle Verfechter der Evolutionstheorie, die sich mit einem „halbierten Darwin“ nicht abfinden möchten.
Hat man dies im Blick, so wundert man sich nicht darüber, dass auf dem päpstlichen Evolutionskongress in Rom ebenso fleißig gegen „Kreationisten“ wie gegen weltanschaulich angeblich „anmaßende“ Evolutionsbiologen geschossen wurde (siehe hierzu den Bericht von Ulf von Rauchhaupt im FAZ-Blog). So warnte etwa der Zeithistoriker Ronald Numbers von der University of Wisconsin die Evolutionstheoretiker davor, „die Früchte ihres methodischen Naturalismus als Hinweise oder gar Belege für einen metaphysischen Naturalismus zu verkaufen“: „Leute wie Richard Dawkins oder Daniel Dennett sollten endlich mal still sein".
Leinfelders Vorwurf: Eine Instrumentalisierung Darwins?
Positiv zitiert wurde dieser Ausspruch u.a. im Darwin-Blog des Generaldirektors des Museums für Naturkunde Berlin, Prof. Dr. Reinhold Leinfelder. Leinfelder meinte, dass diejenigen, die die kombatibilistische Position der Vereinbarkeit von Evolutionstheorie und christlichem Glauben kritisieren, Charles Darwin instrumentalisieren würden, sofern sie sich in ihrer Kritik auf den Begründer der modernen Evolutionstheorie beziehen. Um diesen Vorwurf, den er konkret gegenüber Richard Dawkins und der Giordano Bruno Stiftung (gbs) erhob, zu belegen, verwies Leinfelder auf eine Rede, die der Schauspieler Walter Gontermann am 13.2.09 im Auftrag der gbs auf dem Festakt zu Darwins 200. Geburtstag in der Deutschen Nationalbibliothek gehalten hatte.
Diese Rede, konzipiert als „Dankesrede“ des 200jährigen Darwin, enthielt Originalzitate aus Darwins Autobiographie, überwiegend jedoch Passagen, die ich auf der Basis meiner Kenntnis des Darwinschen Werks und Lebens „frei fabuliert“ hatte. (Ohne solche freien Passagen, die Leinfelder als „Pseudodarwin“ bezeichnete, wäre eine solche Rede logischerweise gar nicht möglich gewesen! Wie auch hätte sich Darwin für einen Festakt rund 130 Jahre nach seinem Tod bedanken oder sich darüber mokieren können, dass posthum Passagen aus seiner Autobiographie gestrichen wurden?!)
Nun wäre Leinfelders Kritik an dieser Rede, die für jeden erkennbar ein Mix aus Fact und Fiction war, zweifellos dann berechtigt, wenn die „fabulierten Passagen“ im Widerspruch zu Darwins tatsächlichen Positionen gestanden hätten. Hierfür lieferte Leinfelder jedoch keinerlei Belege. Seine Kritik beruhte vielmehr auf dunklen Unterstellungen, etwa dem indirekten Vorwurf, ich habe unterschlagen, „dass Darwin zuerst eine theistische Sichtweise hatte“ (obgleich der „200jährige Darwin“ diesen Punkt bereits am Anfang der Rede mehrmals betont).
Agnostischer Darwin versus neo-atheistische Stiftung?
Auch dass sich Darwin, wie Leinfelder richtig anmerkte, in seiner Autobiografie als „Agnostiker“ bezeichnete (eine der wenigen glaubensrelevanten Passagen, die Gattin Emma, wohl weil sie mildernd wirkte, nicht zensierte!), steht keineswegs im Widerspruch zur kritisierten Dankesrede oder zu meinen eigenen erkenntnistheoretischen Überzeugungen, die man wohl am treffendsten als „agnostischen Naturalismus“ bezeichnen könnte. (Agnostisch ist dieser Naturalismus, weil es sich dabei nicht um ein feststehendes Dogma handelt, sondern bloß um die sinnvollste, eleganteste Hypothese, die uns momentan zur Verfügung steht!). Dass Leinfelder an dieser Stelle einen Widerspruch vermutete, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er das Label des „neuen Atheismus“ überinterpretierte, das die Medien mittlerweile jedem Naturalisten anheften, der es wagt, religiöse Mythen zu kritisieren.
Um seine These bezüglich der vermeintlichen „Instrumentalisierung Darwins“ zu stützen, bemühte sich der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen dem „zeitlebens religiös suchenden Darwin“ und der Giordano Bruno Stiftung, die angeblich behauptet, „dass sich aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zwingend und allgemeingültig eine atheistische Weltanschauung ergäbe“. Dazu ist Dreierlei zu sagen:
Erstens vertritt die gbs, die bekanntlich nach einem Pantheisten, nicht nach einem Atheisten benannt ist, keine „atheistische“, sondern vielmehr eine humanistische und naturalistische Position. Den Begriff „Atheismus“ vermeiden wir bewusst in unserer Argumentation, da er zutiefst missverständlich ist. (Immerhin ließe sich ja sehr wohl ein Gottesbegriff konstruieren, der nicht im Widerspruch zu Naturalismus und Humanismus steht, etwa den rein metaphorischen Gottesbegriff, den Einstein einst verwendete. Es gibt aus unserer Perspektive keinen Grund, einen solchen Gottesbegriff, auf dem sich allerdings auch keine Religion begründen ließe, zu bestreiten!)
Zweitens sind wir überzeugt, dass es logisch zwingend einen Widerspruch zwischen der Evolutionstheorie und den personalen Gottesvorstellungen der traditionalen Religionen gibt, die notwendigerweise auf einem teleologischen Naturverständnis gründen. Bislang ist es noch keinem Theologen (auch nicht Teilhard de Chardin!) gelungen, die evolutionären Mechanismen mit einem solchen Naturverständnis in Einklang zu bringen. Solange es hierbei bleibt, besteht unseres Ermessens die aufklärerische Pflicht, auf die Inkompatibilität von Evolutionstheorie und religiösen Sinnmodellen hinzuweisen. Dies mag unbequem sein, entspricht jedoch den Anforderungen der intellektuellen Redlichkeit.
Drittens war nicht nur Darwin zeitlebens „auf der Suche“, die gbs ist es ebenfalls. Wer evolutionär denkt, der weiß, dass alles ständig im Wandel ist – nicht zuletzt auch unsere Erkenntnissysteme. Deshalb heißt es auch in der von Leinfelder so heftig kritisierten Dankesrede, dass der bahnbrechende Erfolg der Wissenschaften nicht zuletzt darauf beruht, dass sie „keine unantastbaren Dogmen und auch keine unfehlbaren Säulenheiligen kennen, sondern darauf ausgerichtet sind, die Aussagen selbst der bedeutendsten Wissenschaftler jederzeit in Frage zu stellen und aus ihren Fehlern zu lernen.“ In dieser Passage spiegelt sich nicht nur der kritisch-rationalistische Denkansatz der gbs wieder, der von der prinzipiellen Fehlerhaftigkeit und Verbesserungswürdigkeit menschlicher Erkenntnisse ausgeht, sondern auch Darwins eigene Position. In dessen Autobiografie findet sich nämlich eine Stelle, die wie eine Vorwegnahme des „Prinzips der kritischen Prüfung“ anmutet: „Ich habe mich immer strebend bemüht, meinen Geist frei zu halten, so dass ich jede Hypothese wieder aufgeben kann, auch wenn sie mir noch so gut gefällt (…), sobald Tatsachen auftauchen, die sie widerlegen.“ Schöner hätten es Karl Popper und Hans Albert nicht formulieren können…
Darwin stünde heute auf der Seite von Dawkins & Co.
Wie wichtig Darwin persönlich die naturalistische Entzauberung religiöser Vorstellungen war, belegen die zeitlich letzten Einträge seiner Autobiografie (wieder von Gattin Emma zensiert und auch von Prof. Leinfelder ignoriert): „Nichts“, so resümierte Darwin, „ist bemerkenswerter als das Zunehmen der Skepsis oder des Rationalismus in meiner zweiten Lebenshälfte.“ Wie er berichtete, habe ihm sein Vater noch dazu geraten, seine Glaubenszweifel „sorgfältig geheimzuhalten“, weil solche Zweifel „zu extremen Unglück in der Ehe führen“ könnten. In seiner zweiten Lebenshälfte, konnte Darwin mit einiger Erleichterung feststellen, kenne er unter seinen wenigen Bekannten doch „einige verheiratete Damen, die kaum gläubiger sind als ihre Ehemänner“.
Wer die vollständige (also nicht zensierte!) Autobiografie Darwins sowie seine wichtigsten Werke (insbesondere die beiden oben zitierten, anthropologischen Bücher) gelesen hat, der wird, wie ich meine, kaum bestreiten können, dass Darwin heute sehr wahrscheinlich auf der Seite konsequenter „Evoluzzer“ wie Richard Dawkins bzw. den Evolutionsbiologen und Philosophen der gbs stehen würde, nicht aber auf der Seite bagatellisierender Evolutionstheoretiker wie Numbers oder Leinfelder. Von einer „Instrumentalisierung Darwins“ im Sinne der Religionskritik kann daher gar nicht die Rede sein! Umgekehrt wird viel eher ein Schuh daraus! Denn wer den „halbierten Darwin“ als ganzen verkauft und die weltanschaulichen Konsequenzen der Evolutionstheorie unter den Teppich kehrt, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich in Bezug auf Darwins Vermächtnis ähnlich unangemessen verhält wie dereinst Gattin Emma, die Darwins Memoiren zensierte, um der religiösen Verwandtschaft Kummer zu ersparen.
Die vergebliche Suche nach dem anti-kreationistischen Gottesbild
Gewiss: Reinhold Leinfelder unterschlug nicht, dass Darwin vor dem Hintergrund seines Wissens den Schöpfungsglauben „selbstverständlich ablegen musste“. Doch er bagatellisierte diese Erkenntnis sofort wieder, indem er hinzufügte, dass Darwins „Gottesbild extrem eingeschränkt war“. Dies soll wohl meinen, dass ein weniger eingeschränktes Gottesbild mit Darwins Erkenntnissen in Einklang gebracht werden könnte. Wie dieses Gottesbild aber konkret aussehen könnte, verriet Leinfelder leider nicht! Das von den Amtskirchen vorgegebene Gottesbild kann er damit jedenfalls unmöglich gemeint haben! Denn dieses bestreitet, wie bereits ausgeführt, nicht nur sämtliche Erkenntnisse der evolutionären Psychologie, sondern auch die grundlegenden Mechanismen der Evolution, die einer zielgerichteten Schöpfung widersprechen.
Papst Benedikt XVI. ließ wie seine Vorgänger gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Mensch – Darwin hin oder her – ein gottgewolltes Geschöpf sei: „Dieses spezielle Gewolltsein und Gekanntsein des Menschen von Gott nennen wir seine besondere Erschaffung.“ Auch die EKD sieht immer noch in Gott den Denker und Lenker hinter der Evolution, denn wo Gott „nicht anfängt, da kann nichts sein oder werden, wo er aufhört, da kann nichts bestehen“.
Beide Großkirchen müssen daran festhalten, dass Gott in seiner Allmacht und Allwissenheit die Schöpfung von Anfang an exakt so konzipiert hat, dass wir Menschen als seine Ebenbilder notwendigerweise entstehen mussten. Dies führt freilich zu recht kuriosen Konsequenzen: Hätte Gott nämlich die Parameter der Evolution nur einen Tick anders eingestellt (beispielsweise auf den verheerenden Einschlag eines Asteroiden vor 65 Millionen Jahren verzichtet), so hätte sich sein Alter ego „Jesus“ möglicherweise nicht in Menschengestalt, sondern als Tyranosaurus Rex inkarnieren müssen! Nicht auszudenken, welcher Kult hieraus erwachsen wäre!
Spaß beiseite: Es zeigt sich, dass die vermeintliche Akzeptanz der Evolutionstheorie durch die Kirchen bei genauerer Betrachtung eine Mogelpackung ist! In Wirklichkeit akzeptieren die Kirchen nur den „halbierten“ Darwin, um auf diese Weise zumindest den letzten Restbestand ihres kreationistischen Weltverständnisses aufrechterhalten zu können.
Wie gering die Zugeständnisse der Kirchen an das wissenschaftliche Welterklärungsmodell letztlich sind, mag ein Zitat aus dem aktuellen „Weltkatechismus der katholischen Kirche“ illustrieren, welches zeigt, dass die offizielle christliche Theologie trotz aller demonstrierten Aufgeschlossenheit für naturwissenschaftliches Denken weiterhin an der prinzipiellen Faktizität der Paradieserzählung festhält (ohne die die christliche Erbsünden- und Erlösungslehre freilich auch zusammenbrechen würde): „Der Bericht vom Sündenfall verwendet eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte der Menschheit [kursiv im Original!] stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewissheit, dass die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeseltern freiwillig begangen haben.“
Der Katechismus, der mit dem Anspruch auftritt, die für jeden Katholiken weltweit verbindlichen „Glaubenswahrheiten“ zu enthalten, verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf das oben zitierte Rundschreiben „Humani Generis“ Pius XII., das den Gläubigen nicht nur abverlangt, an eine gesonderte, a-materielle „Erschaffung der Seele“ zu glauben, sondern auch an die Existenz des einen biblischen Adam, dessen Ursünde, „durch Zeugung auf alle übertragen, einem jeden als ihm eigen innewohnt.“
Wer tatsächlich meint, dass derartige Vorstellungen mit moderner Wissenschaft kompatibel seien, der sollte dies umfassend belegen können. Ich jedenfalls halte diese Vorstellung für falsch und muss somit Jürgen Mittelstraß energisch widersprechen: Wenn der religiöse Glaube wissenschaftliche Erkenntnis so eklatant ignoriert, so vermag er das Leben der Menschen eben nicht „zu stabilisieren und zu orientieren“, er trägt vielmehr zur Destabilisierung und Desorientierung des menschlichen Lebens bei.
Fazit
In einem Leitartikel [4] für „politik und kultur“, der „Zeitung des Deutschen Kulturrates“, schrieb Prof. Dr. Leinfelder mit Blick auf mein Buch „Manifest des evolutionären Humanismus“: „Darwins Theorie wurde im 20. Jahrhundert kräftig missbraucht. Eugenik und nationalsozialistische „Rassenhygiene“, aber auch Stalinismus und Turbokapitalismus zweckentfremdeten Darwin. Um nicht missverstanden zu werden – ein „evolutionärer Humanismus“ hat damit natürlich wirklich überhaupt nichts zu tun, dennoch zeigt uns die Geschichte, wie vorsichtig, fundiert und ethisch verantwortlich die Wissenschaft heute vorgehen muss, wenn sie gesellschaftliche und ethische Schlüsse aus der Evolutionsforschung zieht.“
Diese Aussage Leinfelders unterschreibe ich sehr gerne! Selbstverständlich müssen wir als Wissenschaftler (und Philosophen!) vorsichtig sein, wenn wir Schlüsse aus der Evolutionsforschung ziehen wollen. Allerdings sollte derjenige, der es – aus welchen Gründen auch immer – vorzieht, keine oder nur halbgare gesellschaftliche und ethische Schlüsse aus der Evolutionsforschung zu ziehen, seine Handlungsweise ebenfalls dringend dahingehend überprüfen, ob sie wissenschaftlich/philosophisch fundiert und ethisch verantwortlich ist! Der Kompatibilisimus von Evolutionstheorie und religiösem Glaube sollte jedenfalls nicht als unhinterfragbares Dogma betrachtet werden, sondern als Hypothese, die der kritischen Prüfung bedarf.
Wie aus meinen Darlegungen hervorgeht, vertrete ich die gegenteilige These der Inkompatibilität, die besagt, dass Evolutionstheorie und religiöser Glaube (gerade auch in Gestalt der sog., „Hochreligionen“) nicht miteinander zu vereinbaren sind. Auch diese Hypothese bedarf zweifellos der kritischen Prüfung. Um herauszufinden, welche Hypothese die bessere ist, müssen wir endlich in eine offene, rationale Debatte eintreten! Forderungen nach Kritikverzicht („Leute wie Richard Dawkins oder Daniel Dennett sollten endlich mal still sein") sind in dieser Hinsicht kontraproduktiv und legen den Verdacht nahe, dass derjenige, der so spricht, sich gegen Argumente immunisieren will, denen er nichts Gleichwertiges entgegenstellen kann.
MSS
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-234-372.jpg
[2] http://achdulieberdarwin.blogspot.com/2009/03/instrumentalisierung-von-darwin-durch.html
[3] http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,612173,00.html
[4] http://www.kulturrat.de/dokumente/puk/puk2009/puk02-09.pdf