Wissenschaftstheorie | 18.12.2008
Warum sind die Biowissenschaften naturalistisch?
Es gibt wohl kein anderes wissenschaftsphilosophisches Prinzip, über das derart erbittert gestritten wird, wie über den Naturalismus in den Biowissenschaften. Der Drang, theologische Vorstellungen in die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf der Erde einzubeziehen, ist bis heute ungebrochen. Obwohl die meisten Menschen heute keine Schwierigkeit mehr damit haben, den Begriff der Selbstorganisation auf die Physik, Astronomie, Chemie, ja sogar auf die Biochemie anzuwenden (wenn man also darüber spricht, wie sich aus der (Ur-) Materie Wasserstoff immer komplexere Systeme bilden und gebildet haben und wie sich das Leben zellulär organisiert und erhält), soll es in den Augen vieler auf diesem Weg einen Bruch geben, der mit wissenschaftlichen Beschreibungsmitteln auf einmal nicht mehr überbrückbar sein soll.
Der Lückenbüßer-Gott
Etliche Theologen glauben immer noch, dort, "wo es kompliziert wird und wo noch nicht alles bekannt ist, eine Stelle finden zu können … an der nur eine supernaturalistische Beschreibung weiterhelfen kann" (Kanitscheider 1999, S. 80). Daher nimmt es nicht Wunder, dass sich vor allem die Kosmologen und Evolutionsbiologen massiven Angriffen auf ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen ausgesetzt sehen, wie dies vor allem in den Publikationen der Kreationisten sowie der Protagonisten der Intelligent-Design-Bewegung deutlich wird. Der Evolutionsbiologe, so wird oft gesagt, lanciere einen "Naturalismus mit Weltbildanspruch"; er schließe Gottes Wirken vorsätzlich aus dem Bereich der Realität aus und sei somit nicht wirklich an unvoreingenommener Forschung interessiert. Wird also das Wirken eines göttlichen Designers in der Natur aus dogmatischen Gründen ausgeschlossen, wie die Kreationisten behaupten? Was versteht man überhaupt unter dem (ontologischem) Naturalismus?
Zunächst bedarf der Begriff "Ontologie" einer Erklärung: Darunter versteht man die philosophische Disziplin, die sich mit dem Sein und Werden der Welt beschäftigt. Sie beschäftigt sich mit so grundlegenden Begriffen wie Ding, System, Eigenschaft, Emergenz, Kausalität, Gesetz, Realität usw. (Bunge und Mahner 2004). Somit sind alle Aussagen über die Welt, die nicht Gegenstand der Einzelwissenschaften selbst sind, ontologischer Natur. Der Begriff Ontologie wird im traditionellen Sinne oft mit Religion, nutzloser Spekulation oder mit dem Geltungsanspruch, irrtumsfreie, letzte Wahrheiten über die Welt erlangen zu können, in Verbindung gebracht. Es gibt aber auch Ontologien, die sich von der Religion emanzipiert haben, die Fehlbarkeit allen Wissens anerkennen, kritisierbar sind und sich zu einem respektablen Zweig der akademischen Philosophie entwickelt haben, wie der Naturalismus.
Geht alles mit rechten Dingen zu?
Nach der These des ontologischen Naturalismus ist der Kosmos kausal strukturiert und in sich abgeschlossen, das heißt alle Phänomene können gesetzmäßig und auf der Basis weltimmanenter (natürlicher) Prinzipien und Mechanismen – also ohne Zuhilfenahme von Göttern, Geistern, unspezifischen Designern, Seelen als rein geistiges Substrat, Wundern, Prophezeiungen, Telepathie, Astrologie und sonstigen transzendenten Dingen – beschrieben und erklärt werden (Sukopp 2006, p. 280). Transzendent oder supranaturalistisch sind somit alle Instanzen, die nicht (notwendigerweise) an die kosmische, kausal strukturierte Ordnung gebunden sind, sie durchbrechen, überwinden oder beeinflussen können. Wer den ontologischen Naturalismus in einer schwachen Form vertritt, schließt die Existenz transzendenter Seins-Bereiche aber nicht kategorisch aus, sondern nimmt lediglich an, "dass das Universum in seinem empirisch, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten, besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirk-Faktoren erkannt werden kann" (Kanitscheider 2003, p. 33). Wir haben es demnach mit einem innerweltlichen Naturalismus zu tun, wonach das Verständnis der Natur nicht über sie hinausführt (Abb. 1).
Abb. 1 Blick in die "Übernatur". Dem Naturalismus zufolge ist weder die Einflussnahme übernatürlicher Entitäten auf das Weltgeschehen, noch der Glaube an Übernatürliches empirisch oder theoretisch begründet.
Gott ist keine Erklärung
Dieser schwache ontologische Naturalismus ist nun nicht etwa nur eine beliebige philosophische Hypothese, sondern ein essentielles Grundprinzip der Naturwissenschaften überhaupt. Denn die Naturwissenschaften sind an bestmöglicher Absicherung (Überprüfung) ihrer Theorien sowie an mechanismischen Erklärungen interessiert. Überprüfbar sind jedoch nur Theorien, die kausal strukturierte, materielle Objekte zum Gegenstand haben, die sich gesetzmäßig verhalten und durch weltimmanente Prinzipien, das heißt durch Wechselwirkung mit anderen Dingen entstehen und sich entwickeln (Elementarteilchen oder deren Systeme). Übernatürliche Wesenheiten "entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden" (Mahner 2003, p. 138). Es ist augenscheinlich, dass sich für das Wirken übernatürlicher, transzendenter Kräfte keine objektive Grenze angeben lässt. Deshalb fallen Theorien, die von übernatürlichen Wirkursachen, Wundern und unspezifischen Schöpfern handeln, der Beliebigkeit anheim; solche Faktoren lassen sich nicht empirisch-wissenschaftlich begründen.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass wir buchstäblich alles mit nur einer einzigen übernatürlichen Ursache erklären könnten. So könnte etwa das Wachstum der Bäume ebenso mithilfe der Einwirkung eines göttlichen Designers erklärt werden, wie der radioaktive Zerfall oder die Entstehung von Planetensystemen. Doch eine Theorie, die prinzipiell alles erklären kann, erklärt aus wissenschaftlicher Sicht gar nichts, zumal es sich bei den ihnen zugrunde liegenden Mechanismen und Zwängen um völlig unbekannte und unerforschliche Faktoren handelt. Nur Theorien, die auf der Basis wohlbegründeter Mechanismen genau das erklären, was sie erklären sollen und dabei eine Menge logisch möglicher Beobachtungen ausschließen, haben Erklärungskraft (Bunge und Mahner 2004). In den Augen derer, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ihre Theorien zu überprüfen und bislang unverstandene Phänomene einer differenzierten, innerwissenschaftlichen Erklärung zuzuführen, existiert also keine Alternative zum ontologischen Naturalismus. Die Tatsache, dass die Naturwissenschaftler keine übernatürlichen und teleologischen Faktoren akzeptieren, ist schlichtweg Ausdruck methodologischer Notwendigkeit (Abb. 2).
Abb.2 Der ontologische Naturalismus ist fester Bestandteil des philosophischen Hintergrunds aller Naturwissenschaften, denn er ist eine notwendige Vorbedingung für die Prüfbarkeit von Theorien. Nur aus Gesetzesaussagen lassen sich logisch ganz spezifische Folgerungen ableiten, die man an der Beobachtung überprüfen kann. In einer Schöpfungstheorie werden jedoch Gesetzesaussagen zum Teil durch den Willen einer unerforschlichen Wesenheit ersetzt, über die sich beliebig spekulieren lässt. Überhaupt jeder nur denkbare empirische Effekt könnte der freien Entschlusskraft eines Schöpfers entsprungen sein. Hierin wird deutlich, dass letztlich alle "Erklärungen" am unergründbaren Ratschluss des Schöpfers scheitern, denn anstelle einer Erklärung wird einfach der unerklärte Wille eines intelligenten Planers gesetzt.
Auf dem Boden der Tatsachen
Wir sehen also, dass der Naturwissenschaftler gute Gründe für die Anwendung des Naturalismus vorweisen kann. Der ontologische Naturalismus ist auch kein Dogma, sondern sehr wohl kritisierbar und nötigenfalls zu revidieren. Das heißt, der Naturwissenschaftler bzw. Naturalist verteidigt sein Weltbild nicht a priori, sondern bleibt offen gegenüber Evidenzen, die eine Revision des Naturalismus erzwingen würden. Würden in dieser Welt beispielsweise Dinge geschehen, die man nur als Wunder bezeichnen könnte, dann wäre ein Naturalist "bereit, seine Postulate zu überdenken und nötigenfalls zu ändern" (Vollmer 1995, S. 40). Solange derartige Evidenzen aber nicht vorliegen, käme der Rückgriff auf Außerweltliches, Teleologisches und Esoterisches einer "intellektuellen Bankrotterklärung" gleich: "Sicher können und müssen wir nicht alles erklären; aber wenn wir erklären wollen, dann fordert der Naturalist nachdrücklich die Beschränkung auf natürliche, reale, materiell-energetische Strukturen" (Vollmer 1995, p. 38).
Literatur
Bunge, M.; Mahner, M. (2004) Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Hirzel-Verlag, Stuttgart.
Kanitscheider, B. (1999) Es hat keinen Sinn, die Grenzen zu verwischen. Spektrum d. Wissenschaften 11, 80 – 83.
Kanitscheider, B. (2003) Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik. In: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1, 33-34.
Mahner, M. (2003) Naturalismus und Wissenschaft. Skeptiker 16, 137-139.
Sukopp, T. (2006) Naturalismus. Kritik und Verteidigung erkenntnistheoretischer Positionen. Ontos-Verlag, Frankfurt a. Main.
Vollmer, G. (1995) Was ist Naturalismus? Eine Begriffsverschärfung in zwölf Thesen. In: ders. Auf der Suche nach der Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild, 21-42. Hirzel-Verlag, Stuttgart.
© Martin Neukamm. Verändert nach: Neukamm, M. (2007) Wissenschaft und ontologischer Naturalismus. Eine Kritik antievolutionistischer Argumentation. In: Kutschera, U. (Hg.) Kreationismus in Deutschland. Lit-Verlag, Münster, 163-231.
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-136-93.png