Rezension | 08.12.2010
Nach den ganzen Erwähnungen von Sam Harris neuem Buch im Evo-Magazin, könnte doch endlich mal jemand eine Rezension darüber schreiben! Gute Nachricht: Hier ist sie. Der Philosoph und Neurowissenschaftler möchte uns davon überzeugen, dass es eine objektiv und wissenschaftlich begründete Moral geben könnte.
Na gut, es ist nur der erste Teil einer längeren Buchbesprechung, aber immerhin. Der Untertitel des Buches lautet jedenfalls programmatisch „Wie die Wissenschaft menschliche Werte bestimmen kann“. Der Schriftsteller Ian McEwan fühlte „den Erdboden unter den Füßen nachgeben“, als er das Buch las. Für Steven Pinker kann es sich „kein denkender Mensch erlauben, Harris reizvolle Vision zu ignorieren“. Laut Richard Dawkins wird das Buch die Welt von Moralphilosophen „auf den Kopf stellen“. Der Physiker Lawrence Krauss vergleicht das Buch mit dem Trinken aus einem kühlen Bach an einem heißen Tag.
Religion noch immer schlecht
Das Buch hat seine Schwächen, soviel sei vorweggenommen. Diese Schwächen liegen allerdings nicht so sehr bei Harris Argumentation für eine objektive Ethik, sondern bei seiner Obsession mit Religionskritik. Mit seinen vorherigen Büchern „Das Ende des Glaubens [2]“ und „Brief an ein christliches Land [3]“ und den Reaktionen darauf hat er viele Erfahrungen gesammelt in diesem Bereich und leider kommt er immer wieder auf das Thema zu sprechen, obwohl es beizeiten eher ablenkt. In der Tat hat das gesamte vierte Kapitel, genannt „Religion“, nicht wirklich viel mit dem Thema des Buches zu tun.
Wer ebenfalls noch in der religionskritischen Phase steckt, der wird diese Passagen und das ganze Kapitel begrüßen. Alle anderen finden es ein wenig deplaziert, auch wenn Harris Ausführungen über Religion, die quasi ein „Update“ sind zu seinen vorherigen Büchern und eine Reflektion dessen, was er seitdem journalistisch hervorgebracht hat (teilweise Auszüge aus seinen Artikeln), als solche durchaus qualitativ hochwertig sind.
Gegen Fundamentalismus und Relativismus
Mit seiner ethischen Position spricht sich Sam Harris sowohl gegen moralischen Fundamentalismus aus, der meint, es gäbe auf alles eine eindeutige und vorgefertigte, nicht anzuzweifelnde Antwort, wie auch gegen ethischen Relativismus, der meint, dass ethische Handlungen nicht objektiv beurteilt werden könnten. Der Relativismus ist seiner Erfahrung nach weit verbreitet unter atheistischen Intellektuellen, wie Harris in einer Fußnote anmerkt:
„In Anbetracht meiner Erfahrung als Religionskritiker muss ich sagen, dass es recht beunruhigend gewesen ist, die Karikatur des übergebildeten, atheistischen moralischen Nihilisten regelmäßig in meinem Maileingang und als Kommentator unter meinen Blogbeiträgen zu finden. Ich hoffe aufrichtig, dass Leute wie Rick Warren nicht darauf achtgegeben haben.“
Bei jeder Diskussion über sein Buch erzählt Harris eine persönliche Anekdote über ethische Beliebigkeit, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Auf einer Konferenz sprach eine Akademikerin (Harris will ihren Namen rücksichtsvollerweise nicht nennen), die in Obamas Bioethik-Komitee sitzt, über die ethischen Probleme mit einem Gebrauch von Gehirnscannern als Lügendetektoren – ein kompliziertes Gebiet mit detaillierten ethischen und legalistischen Unterscheidungen. Danach führte sie ein Gespräch mit Sam Harris. Ein Auszug:
Sie: Warum glauben Sie, dass die Wissenschaft jemals in der Lage sein wird zu sagen, dass es falsch ist, Frauen zum Tragen von Burkas zu zwingen?
Harris: Ich denke, dass Richtig und Falsch von dem zunehmendem oder abnehmenden Wohlbefinden abhängen – und es ist offensichtlich, dass es keine gute Strategie für die Maximierung menschlichen Wohlbefindens ist, die Hälfte der Bevölkerung zu zwingen, in Stoffbeuteln zu leben und sie zu schlagen oder zu töten, wenn sie sich weigern.
Sie: Aber das ist nur Ihre Meinung.
Harris: Ok... Dann machen wir es noch einfacher: Angenommen, wir würden eine Kultur finden, die jedes dritte Kind rituell blendet, indem sie seine oder ihre Augen im wörtlichen Sinne bei der Geburt herausnimmt, wären Sie dann der Meinung, dass wir eine Kultur gefunden haben, die das menschliche Wohlbefinden unnötig vermindert?
Sie: Das würde davon abhängen, warum sie es machen.
Harris: Sagen wir, sie tun es auf der Basis von religiösem Aberglauben. In ihrem heiligen Buch heißt es: „Jedes Dritte muss in Dunkelheit wandeln“.
Sie: Dann könnten Sie niemals sagen, dass sie unrecht hätten.
Werte sind Fakten
Die Auffassung, dass Wissenschaft von Fakten und nicht von Normen handeln würde, ist beliebt in gebildeten Sphären. Sie wird seit der Rennaissance von Professor zu Professor weitergegeben. Der Philosoph und Psychologe Jerry Fodor drückt es so aus:
„Wissenschaft dreht sich um Fakten, nicht Normen; sie könnte uns erzählen, wie wir sind, aber sie könnte uns nicht sagen, was daran falsch ist, wie wir sind. Es könnte keine Wissenschaft des menschlichen Zustands geben.“
Harris hat folgende Haupteinwände:
Was auch über die Maximierung des Wohlbefindens von bewussten Wesen gesagt werden kann – und dies ist das einzige […] was wir vernünftigerweise schätzen können – muss sich ab einem bestimmten Punkt in Fakten über Gehirne und ihre Interaktion mit der Welt als Ganzes übersetzen lassen.
Bereits in der Idee von „objektivem Wissen“ (also Wissen, das durch ehrliche Beobachtung und Schlussfolgerung erzielt wurde) stecken Werte, da jeder Versuch, den wir unternehmen, über Fakten zu sprechen, von Prinzipien abhängt, die wir erst bewerten müssen (zum Beispiel logische Konsistenz, Verlassen auf Belege, Unparteilichkeit, etc.).
Ansichten über Fakten und über Werte scheinen von ähnlichen Prozessen auf der Ebene des Gehirns zu resultieren: Wie es aussieht, haben wir ein gemeinsames System für die Bewertung von Wahrheit und Falschheit in beiden Bereichen.“
Sam Harris räumt mit einem weitverbreiteten Missverständnis darüber auf, was „objektiv“ in diesem Zusammenhang bedeutet:
„Ich behaupte gewiss nicht, dass moralische Wahrheiten unabhängig von der Erfahrung bewusster Lebewesen existieren, oder dass bestimmte Handlungen intrinsisch falsch sind. Ich sage lediglich, dass, angesichts der Tatsache, dass wir Fakten herausfinden können – reale Fakten – darüber wie bewusste Wesen das großtmögliche Leid und das großtmögliche Wohlbefinden erfahren können, es objektiv wahr ist zu sagen, dass es wahre und falsche Antworten auf moralische Fragen gibt, ob wir die nun immer in der Praxis beantworten können oder nicht.“
Wissenschaft ist ergebnisoffen und undogmatisch. Sie versucht, objektive Erkenntnisse über die Realität zu gewinnen. Warum sollte die Wissenschaft auf einmal dogmatisch werden, wenn sie sich mit Ethik befasst?
Fakten und der Glaube
Warum glauben religiöse Menschen an ihre jeweiligen Mythen? Eine oftmals geäußerte Antwort lautet, dass sie sich besser fühlen würden, wenn sie das tun. Doch Sam Harris behauptet, dass Menschen nicht absichtlich an etwas glauben, obwohl sie keine guten Gründe dafür haben.
Gläubige sind vielmehr der Auffassung, dass ihr Glaube durchaus auf Fakten basiere. Harris illustriert diese Aussage mit einem fehlgeschlagenen Vorsatz für das neue Jahr:
Dieses Jahr habe ich mir geschworen, vernünftiger zu sein, aber Ende Januar habe ich herausgefunden, dass ich wieder auf meine alten Gewohnheiten zurückgefallen bin und Dinge aus schlechten Gründen glaube. Momentan glaube ich, dass andere auszurauben eine harmlose Betätigung ist, dass mein toter Bruder ins Leben zurückkehren wird, und dass ich dazu auserkoren bin, Angelina Jolie zu heiraten, einfach, weil es sich gut anfühlt, diese Dinge zu glauben.
Ein Glaube ist bedingt durch die Annahme, dass wir etwas akzeptiert haben, weil es wahr zu sein scheint. Um wirklich eine Aussage zu glauben, ob nun über Fakten oder über Werte, müssen wir auch glauben, dass wir uns nicht irren, einem Wahn unterliegen, verrückt sind, Wunschdenken aufsitzen, etc.
Würden wir tatsächlich etwas glauben, nur weil es sich gut anfühlt, dann würde ein Glaubensbekenntnis zum Beispiel so aussehen:
Ich glaube, Jesus wurde von einer Jungfrau geboren, ist auferstanden und beantwortet nun Gebete, weil ich mich besser fühle, wenn ich diese Dinge glaube. Indem ich diesen Glauben annehme, nehme ich lediglich meine Freiheit wahr, an Aussagen zu glauben, die sich gut anfühlen.
Gegenargumente und Belege, die dem Glauben einer solchen Person widersprechen, könnten ihn überhaupt nicht beeindrucken. Aber wenn es sich besser für ihn anfühlen würde, etwas anderes zu glauben, dann könnte er seine Religion einfach wechseln. Man stelle sich vor, ein Gläubiger hätte folgende Offenbarung erlebt:
Die letzten Monate habe ich bemerkt, dass sich mein Glaube an die Göttlichkeit von Jesus nicht mehr gut anfühlt. Die Wahrheit ist, dass ich gerade eine muslimische Frau getroffen habe, die ich sehr achte, und ich möchte sie fragen, ob sie mit mir ausgeht. Da Muslime glauben, dass Jesus nicht göttlich war, mache ich mir Sorgen, dass mein Glaube an die Göttlichkeit von Jesus meine Chancen bei ihr reduzieren könnte. Da ich mich nicht so fühlen will, und wirklich mit dieser Frau ausgehen möchte, glaube ich nun, dass Jesus nicht göttlich war.
Hat eine solche Person jemals existiert?
Mehr davon
In letzter Zeit meinten Forscher, zum Beispiel Jonathan Haidt, vermehrt herausgefunden zu haben, dass es mehr oder minder egal wäre, was wir so alles über Ethik sagen und denken, denn am Ende verhalten wir uns sowieso, wie unser evolutionäres Programm das haben möchte. Sam Harris dagegen betont (wie auch Richard Carrier) die wenigstens potenzielle Macht der Philosophie und geht auf die Argumente von Haidt und anderen ein.
Daneben schreibt Harris über die Neuropsychologie und ihr Verhältnis zur Ethik, was zum Teil auf seinen eigenen Forschungen beruht. Während bereits andere für den ethischen Realismus und für den Utilitarismus argumentiert haben, sind diese Erkenntnisse wirklich neu und durchaus relevant für die Auffassung der ethischen Realisten.
Über diese beiden Themen und über andere Dinge berichtet der zweite Teil dieser Rezension nächste Woche.
Falls Sie sofort mehr haben möchten, empfehlen sich folgende zwei Podcasts von Sam Harris über „The Moral Landscape“:
Teil 1 [4]
Teil 2 [5]
Und hier ist die Website zum Buch [6].
AM
Noch etwas anderes zum Schluss: Der Theologe Heinzpeter Hempelmann macht Werbung für uns in seinem neuen Buch Der neue Atheismus und was Christen von ihm lernen können [7]. Obwohl es den „neuen Atheisten“ eigentlich nur ums Geld geht, freuen wir uns, dass trotzdem jemand unsere Argumente ernstgenommen hat. Vielleicht werden jetzt mehr Leute unsere Bücher kaufen.
Womöglich reicht es diesmal sogar für einen weiteren Palast in Västra Götalands län in Schweden – gut versteckt vor den Augen der Welt, wie der Rest unserer Agenda [8]. Unser Liechtensteiner Banker reibt sich die Hände. Irgendwann marschieren wir durch verborgene Untergrundbahnen in den Vatikan und schütten dort Tinte auf die Dokumente und ziehen den Erzbischöfen an den Haaren, etc.
Als Gegenleistung erwähnen wir an dieser Stelle auch das Buch von Herrn Hempelmann in der Hoffnung, dass er sich bald auch einen kleinen Palast bauen kann. Nach diesem etwas verworrenen Kommentar soll auch dieser Artikel nunmehr ein Ende finden.
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-505-917.jpg
[2] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p887_Harris--Das-Ende-des-Glaubens.html
[3] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p1015_Harris--Brief-an-ein-christliches-Land.html
[4] http://twaud.io/Ppp
[5] http://twaud.io/Ppq
[6] http://www.samharris.org/site/full_text/the-moral-landscape/
[7] http://brunnen-verlag.de/details.php?catp=11000_11200&p_id=2420&ojid=0hsbe0ov7l6afchod5ng874db2
[8] http://www.faz.net/s/RubC4DEC11C008142959199A04A6FD8EC44/Doc~ED8CEA7B7DC574503B925C4FF94AE7053~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_googlefeed