Psychologie | 18.11.2010
In unserer Reihe über das Christentum aus wissenschaftlicher Sicht geht es diesmal um die Perspektive der Psychologin Valerie Tarico, die sie im Buch The Christian Delusion vorstellt. Wie ist es möglich, dass so viele Menschen im Zeitalter des iPads noch eine jahrtausendealte Weltanschauung teilen?
Da wir nun zumindest die Aufmerksamkeit der PR-Abteilung von Apple haben, werfen wir einen näheren Blick auf die Funktionsweise des menschlichen Verstandes aus Sicht der modernen Psychologie. Laut Tarico lassen sich grundlegende Probleme unserer Psyche wie folgt zusammenfassen:
1.) Wir Menschen sind in Bezug auf gar nichts rational, geschweige denn in Bezug auf Religion.
2.) Sicherheit ist ein Gefühl des Wissens und hängt nicht von Beweisen ab. Sie kann selbst bei einer enormen Menge an Belegen abwesend bleiben und kann sich unabhängig von irgendeinem echten Wissen einstellen.
3.) Die Struktur des Denkens selbst prädisponiert uns für religiöses Denken. Angesichts dessen, wie unser Verstand funktioniert, sind einige Arten des religiösen Glaubens wahrscheinlich und andere unmöglich.
4.) Das Erweckungserlebnis ist ein natürliches Phänomen. Es wird durch bestimmte soziale und emotionale Faktoren ausgelöst, die sowohl in religiösen wie in säkularen Umständen eintreten können.
Östliche Religionen befassen sich eher mit der Praxis, mit spirituellem Leben, Selbstverleugnung, Innensicht oder Erleuchtung. Die Betonung des rechten Glaubens ist typisch für den Monotheismus. Da Polytheisten kein Problem damit haben, einen weiteren Gott in ihren Pantheon aufzunehmen, können sie Christen einfach davon überzeugen und sie dann von ihren anderen Göttern wegführen.
Sie glauben, Sie wären rational?
Wir sind von Natur aus nicht rational, sondern unsere Gehirne haben eingebaute Voreingenommenheiten („bias“). Die Philosophie geht davon aus, dass Menschen durch gute Argumente überzeugt werden und dass sie moralische Entscheidungen auf Grundlage einer Berechnung treffen, die Leid vermeidet und das größere Gut anstrebt. Die Psychologie sieht sich an, wie Menschen im Alltag funktionieren und sie kommt zu dem Ergebnis, dass das so in der Regel nicht funktioniert.
Wir verzerren die Realität auf eine Weise, die uns persönlich nützt. Wir nehmen die Anerkennung für Erfolge entgegen, auch wenn dies unangemessen ist, und wir machen externe Faktoren für unsere Fehler verantwortlich. Wir verändern unsere Wahrnehmung der Geschichte, damit es so aussieht, als wären unsere Fehler einfach zu erwarten gewesen aufgrund der Herausforderungen, denen wir gegenüberstanden. Wir erinnern uns eher an Gelegenheiten, als wir liebenswürdig und clever waren, als rüpelhaft und gemein. Im Durchschnitt erwarten wir zehn Jahre länger zu leben, als wir es im Durchschnitt tun.
Unsere eigennützigen Voreingenommenheiten haben eine positive Funktion. Die dienen der Abwehr von Depressionen, sie machen Hoffnung und sie bringen uns dazu, es stärker zu versuchen. Sie helfen aber auch zu erklären, warum unglaublich egozentrische religiöse Ansichten keinen Alarm auslösen.
Unsere stärkste eingebaute mentale Verzerrung ist der Bestätigungsfehler (confirmation bias). Sobald wir eine vage Vorstellung darüber haben, wie die Dinge funktionieren, suchen wir Informationen, die zu dem Bild passen, das wir bereits haben. Wir bauen uns eine bedeutsame Geschichte zusammen. Beispielsweise könnten Strafverfolger davon ausgehen, dass jemand schuldig ist, und Gegenbelege ignorieren. Politiker suchen nach immer neuen Erklärungen, warum ihr Fünf-Jahresplan gescheitert oder „nicht wirklich“ gescheitert ist. Wir alle wollen eine Geschichte, bei der die Rätsel aufgelöst und am Ende alle losen Enden verknüpft werden.
Voreingenommenheiten gehören zu unserer natürlichen Grundausstattung und die meisten davon finden unterhalb der bewussten Wahrnehmung statt. Dies sollte uns dazu bringen, die eigenen blinden Flecken ausfindig zu machen.
Erweckungserlebnisse – ein Beispiel für Gehirnwäsche
Laut dem Neurologen Robert Burton ist das Gefühl des Wissens (der Sicherheit, des Rechthabens, der Überzeugung) eine primäre Emotion wie Wut, Vergnügen oder Furcht. Es kann durch einen Anfall ausgelöst werden, durch Drogen oder durch direkte elekrische Stimulation des Gehirns. Auch Gehirnwäsche kann dazu gebraucht werden: Wiederholung, Schlafentzug und soziale / emotionale Manipulation.
Erweckungserlebnisse werden durch Gehirnwäsche ausgelöst. Sie können intensiv, hypnotisch und transformativ sein. Die Praktiken des Gottesdienstes, Musik und religiöse Architektur wurden über die Zeit optimiert, um Empfindungen der Transzendenz und Euphorie auszulösen. Soziale Isolation schützt den gemeinschaftlichen Konsens. Die Wiederholung von Ideen (das apostolische Glaubensbekenntnis, „wir bitten dich, erlöse uns“, etc.) verstärkt das Gefühl der Sicherheit. Die Versionen des Christentums, die auf den rechten Glauben wertlegen, haben eingebaute Sicherheitsmechanismen gegen widerstrebende Belege, gegen Zweifel und die Versicherungen anderer Religionen.
Konvertierung beginnt mit sozialem Einfluss. Unser Eindruck der Realität ist bis zu einem gewissen Grad sozial konstruiert. Anfangs werden potenzielle Konvertiten mit Wärme, gutem Willen, nachdenklichen Konversationen und spielerischen Aktivitäten in die Gruppe aufgenommen, stets verbunden mit leichtem Druck entgegen der Gruppenrealität. Bei gemeinsamen Gottesdiensten wird der zu Konvertierende stärker eingesogen mit Hilfe von Gehirnwäsche, wie die Wiederholung von Worten, von Rhythmen, sinnträchtiger Musik und Aussagen, die sich den Barnum-Effekt [2] zunutze machen (Botschaften, die persönlich zu sein scheinen, aber auf beinahe jeden zutreffen, wie Horoskope).
Evangelisten sind sich meist darüber im Unklaren, welche mächtigen psychologischen Werkzeuge sie anwenden, um Konvertiten zu erzeugen. Die Methoden sind über Jahrtausende evolutionär entstanden. Aus Sicht der Evangelisten geben sie das Geheimnis für Heilung und Glück weiter.
Weitere Voreingenommenheiten dienen der religiösen Einbindung. Zum Beispiel die Neigung von Kindern, alles zu glauben, was ihnen ihre Eltern sagen. Unsere Neigung, überall Akteure zu erkennen, ein Produkt unserer Hypersozialität (zum Beispiel Gesichter in den Wolken). Daraus folgt auch unsere Übertragung von menschlichen Eigenschaften auf Tiere und Gegenstände, oder eben auf Götter. Religionen nutzen hypnotische Gruppenprozesse und halluzinatorische Transzendenzerfahrungen.
Nächstes Mal geht es weiter mit den psychologischen Gründen für den Glauben. Danach widmen wir uns den Grundlagen der Moral.
Literatur:
Verschiedene Autoren: The Christian Delusion [3]
Tarico, Valerie: The Dark Side. How evangelical teachings corrupt love and truth [4]
Tarico Valerie: Trusting Doubt. A former Evangelical looks at old beliefs in a new light [5]
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-500-903.jpg
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Barnum-Effekt
[3] http://www.amazon.de/Christian-Delusion-Why-Faith-Fails/dp/1616141689/
[4] http://www.amazon.de/Dark-Side-Evangelical-Teachings-Corrupt/dp/1411691253
[5] http://www.amazon.de/Trusting-Doubt-Former-Evangelical-Beliefs/dp/0977392937/