Anthropologie | 12.11.2010
The Christian Delusion ist ein neues Buch, in dem sich Wissenschaftler aus den Bereichen Anthropologie, Bibelforschung, Geschichte, Philosophie und Psychologie an das Projekt wagen, das Christentum sowohl zu widerlegen, als auch zu erklären. Es bietet faszinierende Einblicke und einige Beiträge sollen hier näher vorgestellt werden.
Im ersten Beitrag befasst sich der Anthropologe David Eller mit dem Christentum als Kultur.
Sein Titel lautet allerdings im Plural „Christentümer als Kulturen“, was bereits eine von Ellers Hauptaussagen darstellt: Es gibt viele Christentümer, die sich gegenseitig oft nicht verstehen, die sich beizeiten sogar feindlich gesinnt sind. Man denke nur an den 30-jährigen Krieg, in dem sich Protestanten und Katholiken bekämpft haben. Oder man denke an die frühere Aufspaltung in ein östliches (orthodoxes) und in ein westliches (römisches) Christentum im Jahre 1054. Ein Schlüsselmerkmal von Kultur ist nämlich Vielfalt.
Eller glaubt, dass Versuche von Skeptikern, das Christentum mit Hilfe von Belegen und Logik loszuwerden, bislang weitgehend fruchtlos waren und dies auch bleiben werden. Im Verlaufe seiner Ausführungen versteht man immer besser, warum das wahrscheinlich so ist.
Warum sind christliche Missionare erfolgreich?
Laut Eller sind christliche Missionare so erfolgreich bei der Konvertierung von Andersgläubigen, weil sie verstehen, was Kultur ist und wie man sie verändern kann. Er zitiert den christlichen Anthropologen Charles Kraft [2], der folgende Eigenschaften von Kultur identifiziert hat:
Kultur bietet eine vollständige Lebensweise, deckt jeden Aspekt des Lebens ab und stattet Menschen mit einer Möglichkeit aus, ihre Leben zu regulieren.
Kultur ist ein Erbe aus der Vergangenheit, das erlernt wurde, als wäre es absolut und perfekt.
Kultur ergibt für jene Sinn, die ihr angehören.
Kultur ist ein adaptives System, ein Bewältigungsmechanismus. Sie bietet Muster und Strategien, um Menschen in die Lage zu versetzen, sich den physischen und sozialen Bedingungen um sie herum anzupassen.
Kultur weist mehr oder minder starke Integration um ihr Weltbild auf.
Kultur ist komplex.
Was das Weltbild angeht, das im Mittelpunkt jeder bestimmten Kultur steht, gelangt Kraft zu folgenden Feststellungen:
Es besteht aus Annahmen (inklusive Bildern), die allen kulturellen Werten, Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen zugrundeliegen.
Es fundiert und erklärt unsere Wahrnehmung der Realität und unsere Reaktionen darauf.
Seine Grundannahmen oder Prämissen werden von Eltern weitergegeben und nicht durchdacht, sondern ohne vorherigen Beweis als wahr akzeptiert.
Wir organisieren unsere Leben und Erfahrungen auf Grundlage unserer Weltanschauung und hinterfragen sie selten, es sei denn, unsere Erfahrung stellt einige ihrer Annahmen in Frage.
Folgende drei Feststellungen sind für die christliche Missionierung besonders relevant:
Das Christentum ist, wie jede Religion, ein Teil der Kultur. Es ist gelernt und wird geteilt und es ist mit anderen Systemen der Kultur integriert, inklusive ihrer Wirtschaft, ihrer Verwandtschaftsverhältnisse und ihrer Politik.
Das Christentum ist eine Kultur, wie jede Religion. Es bietet seine eigene Weltanschauung, bestimmte Begriffe, mit denen man spricht und denkt, und bestimmte symbolische, organisatorische und institutionelle Formen. Es sind niemals nur Glaubenssätze, sondern es sind immer auch Gefühle, Werte, Verbundenheiten und Beurteilungsstandards. Es ist eine mehr oder minder vollständige Lebensweise.
Christliche Missionierung ist eine Art kulturübergreifende Kommunikation und kulturelle Veränderung. Die Konvertierung von einer Religion zu einer anderen ist also niemals einfach eine Veränderung im Glauben. Bedeutsame kulturelle Veränderung hängst stets von der Veränderung in der Weltanschauung ab. Alles, was die Weltanschauung eines Volkes beeinflusst, wird die ganze Kultur beeinflussen und natürlich auch die Menschen, die in Begriffen dieser Kultur handeln.
Die zentrale Erkenntnis besteht darin, dass Kultur holistisch ist: Jeder Aspekt der Kultur – ihre Religion, ihr ökonomisches System, ihre Verwandtschaftspraktiken, ihre Politik, ihre Sprache, ihre Geschlechterrollen und so weiter – ist integriert und voneinander abhängig. Das Funktionieren von jedem Teil beeinflusst alle ihre Teile und die Veränderung von einem Teil führt zu Veränderungen in allen Teilen.
Es gibt kein Entkommen
Christen, aber auch Nicht-Christen, stecken tief in christlichen kulturellen Gewässern und wie Fische nehmen sie das Wasser, in dem sie schwimmen, als selbstverständlich an.
Man nehme nur christliche Redewendungen, Ideen und Begriffe, die auch Atheisten gebrauchen: Der Garten Eden, David gegen Goliath, jeder hat sein Kreuz zu tragen, Schwerter zu Pflugscharen, Wolf im Schafskostüm, verlorene Schafe, Früchte des Zorns, der werfe den ersten Stein, und so weiter. Wer sich für christliche Meme interessiert und wie sie unser Leben beeinflussen, dem sei das Buch Kirche im Kopf [3]von Carsten Frerk und Michael Schmidt-Salomon empfohlen. Aber laufen Sie nicht davon, denn es kommt noch mehr Schleichwerbung.
Religion kann ebenso die Bedingungen von Ehe, Sexualität, Kinderaufzucht und familiäre Rollen bestimmen. Der Einfluss des Christentums hat in diesem Bereich in Deutschland abgenommen, zum Beispiel ist Homosexualität jetzt legal und Kinder werden nur noch von vielen Evangelikalen begeistert geschlagen [4]. Dass etwas christlich ist, heißt aber nicht per se, dass es schlecht sein muss. Auch das wäre ein Denkfehler.
Einige christliche Vorstellungen könnte man aus philosophischen Gründen verteidigen, wie die Ehe (sie macht glücklich) und Monogamie (Polygamie könnte zur Unterdrückung von Frauen führen wie in der islamischen Welt) und andere nicht, wie etwa das Schlagen von Kindern (es erhöht die Wahrscheinlichkeit für kriminelles Verhalten und für ein Verlangen nach dem Schlagen von Kindern). Aber dafür müsste man sie erst einmal hinterfragen – und zunächst auf die Idee kommen, dass man so etwas überhaupt hinterfragen kann. Zum Beispiel lässt sich die christliche Logik, die gegen Abtreibung angeführt wird, auch gegen Empfängnis anführen (Empfängnis ist Mord [5]), aber eine solche Argumentation steht außerhalb des christlichen konzeptionellen Rahmens, weshalb dies kaum jemand in christlichen Reihen versteht.
Schließlich haben Religionen einen Einfluss auf die Gesetzgebung, siehe hierzulande Bioethik (zum Beispiel die aus philosophischer Sicht absonderliche Regelung der Präimplantationsdiagnostik [6]), die Förderung der Kirchen mit Steuergeldern, die staatliche Finanzierung von Kirchentagen und allerlei Dinge, die zu tun absurd wären – es sei denn wir leben in einer christlichen Kultur, die noch nicht hinreichend in der Lage ist, ihren eigenen konzeptionellen Rahmen zu übertreten und sich selbst zu hinterfragen.
Schließlich denke man an religiöse Kunst von Johann Sebastian Bach über Raffael bis zur neuesten Ikonen-Ausstellung des örtlichen Bischofs. Auch Filme sind christlich beeinflusst wie The Matrix mit seinem Erlöser Neo oder I am Legend [7], der überläuft mit christlichen Bezügen.
Religionen versuchen, das Bildungssystem zu infiltrieren, um sich über die Köpfe der Kinder fortzupflanzen. Gelingt ihnen das nicht, versuchen sie es mit Abschottung. Der Plan der „Christian Exodus [8]“-Bewegung lautete zum Beispiel, den US-Bundesstaat South Carolina mit Anhängern der Bewegung zu infiltrieren. Dann wollten die Exodus-Leute den Staat von den USA abtrennen und eine christliche Theokratie darin etablieren. Inzwischen begnügen sie sich mit dem Aufbau von einer vernetzten Parallelgesellschaft, was auch einige andere christliche Bewegungen erfolgreich tun.
Unser Kalender und unsere Feiertage sind christlich oder überwiegend christlich bestimmt. So auch das vorherrschende Bestattungsritual, die Namen von Straßen, Städten, Gebäuden und Orten. Wer in einem christlich geprägten Land lebt, der entkommt dem Christentum nicht.
Selbsterhaltung: Reform und Rückzug
Eine Strategie, wie sich das Christentum selbst erhält, ist die Reform: Die Religion wird für eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zielgruppe neu erfunden. In den USA gebrauchen evangelikale Kirchen zum Teil die Methoden von Marktforschern, um ihre jeweilige Zielgruppe zu erreichen, was die Journalistin Lauren Sandler in ihrem Buch Righteous. Dispatches from the Evangelical Youth Movement [9] aufzeigt. Ultrakonservative Kirchen für Punks und Skater sind dort inzwischen weit verbreitet.
Laut Jan Fleischhauer [10] ist ein weiteres Beispiel für reformiertes Christentum [11] die vorherrschende linke Mainstreamkultur, obwohl sie sich als Gegenbewegung versteht: Ein „wahrer Linker“ (erst recht ein wahrer Schotte [12]) geht nicht zum McDonald's (Nahrungstabus), er erinnert sich regelmäßig an den Holocaust (Rituale), kann aber Israel nicht leiden (Antisemitismus), er will anderen durch Gender-Mainstreaming seine Geschlechtervorstellungen aufzwingen (Parallele zum Patriarchalismus), er will die Schöpfung bewahren, indem er gegen Gentechnik ankämpft und er hält seine politischen Gegner für Diener einer finsteren Macht namens „Faschismus“ (Tribalismus, christliche Metaphysik).
Richard Webster belegt auf 500 Seiten in Why Freud was Wrong [13], inwiefern auch die Psychoanalyse nur eine schein-säkulare Wiedergeburt des Christentums ist. Zum Beispiel ähnelt eine Stunde auf der Couch des Seelenklempners dem katholischen Beichtritual. Wie Bischöfe sind auch Psychoanalytiker vom Sex (oder dessen Vermeidung) besessen und sie schreiben ihm eine gewaltige Macht zu.
Neben der Reform gibt es eine zweite Strategie, wie das Christentum überleben kann: Den Rückzug: Zunehmend viele Christen leben in fundamentalistischen Gemeinschaften wie die Amisch, wie einige Pfingstgemeinden, die „Zwölf Stämme“, die „Gemeinde für Christus“ und wie die Linken in der Hafenstraße [14] in Hamburg.
Religionen sind Kulturen
In eine Religion wird man nicht so sehr indoktriniert, als vielmehr inkulturiert. Wie mit einer Brille sehen Menschen durch ihre Kultur, aber sie sehen für gewöhnlich nicht die Kultur. Wie Computer wissen sie nicht, dass sie ein Programm abspielen. Ohne Kultur wären Menschen blind.
Religionen sind Weltanschauungen und verkörperte Realitäten. Jede ist für Nicht-Mitglieder unverständlich und fremd und jede ist für sich selbst größtenteils unsichtbar. Es lohnt sich für Atheisten zu hinterfragen, inwiefern sie noch von der christlichen Kultur beeinflusst werden und inwiefern sie das möchten.
Nächstes Mal geht es um den christlichen Glauben aus Perspektive der Kognitionswissenschaften.
Literatur
Wer The Christian Delusion [15] gelesen hat und mehr über christliche Kulturen erfahren will, für den empfiehlt sich die Lektüre von Righteous [9] über die evangelikale Jugendkultur in den USA. Wer damit fertig ist, der sollte The Moral Landscape [16] von Sam Harris lesen oder Sense and Goodness Without God [17] von Richard Carrier, um sein schwindendes Vertrauen in die Menschheit wieder ein wenig aufzubauen. Muttersprachler erfahren im Evo-Magazin und bei unseren Partnern [18] das wichtigste und dürfen sich obendrein freuen, dass ihnen sehr viel Kummer erspart bleibt.
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-499-899.jpg
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Charles_H._Kraft
[3] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p857_Frerk---Schmidt-Salomon--Kirche-im-Kopf.html
[4] http://www.liborius.de/nachrichten/ansicht/artikel/studie-evan.html
[5] http://hpd.de/node/6686
[6] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/gibt-es-ein-recht-auf-ein-gesundes-kind
[7] http://hpd.de/node/3946
[8] http://en.wikipedia.org/wiki/Christian_Exodus
[9] http://www.amazon.de/Righteous-Dispatches-Evangelical-Youth-Movement/dp/0670037915/
[10] http://unterlinken.de/
[11] http://die-linke.de/partei/weitere_strukturen/weitere_zusammenschluesse/ag_christinnen_und_christen_bei_der_partei_die_linke/
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Kein_wahrer_Schotte
[13] http://www.richardwebster.net/freudwrong.html
[14] http://de.wikipedia.org/wiki/Hafenstra%C3%9Fe
[15] http://www.amazon.de/Christian-Delusion-Why-Faith-Fails/dp/1616141689
[16] http://www.amazon.de/Moral-Landscape-Science-Determine-Values/dp/1451612788
[17] http://www.amazon.de/Sense-Goodness-Without-God-Metaphysical/dp/1420802933/
[18] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../links