
Presseschau | 13.10.2010
Was kann schöner sein? Doch nur der Herbst und die passende Evo-Presseschau. Erneut werden alle Regeln des anständigen Journalismus über Bord geworfen, um den Weg frei zu machen für den Wissenschaftsjournalismus.
Es geht zum Beispiel um den Weltuntergang und es gibt einen Sonderteil über das Fliegende Spaghettimonster.
Biblisches Armageddon im Biologieunterricht?
Es gibt momentan angeblich zwei unterschiedliche Theorien über den kommenden Weltuntergang. Die Wissenschaft besagt, dass er durch die globale Erwärmung herbeigeführt wird und Evangelikale glauben, dass Gott die elenden Sünder am Ende verbrennt. Zumindest laut dem satirischen Nachrichtensender Onion News ist über die Frage, ob beide Theorien in der Schule gelehrt werden sollen, ein heftiger Streit entbrannt:
Bildschirmzeit beeinträchtigt psychisches Wohlbefinden [2]
Wissenschaftler vom Centre for Exercise, Nutrition and Health Sciences [3] der University of Bristol untersuchen in einer Studie [4], die in der Zeitschrift Pediatrics veröffentlicht wurde, welchen Einfluss die Bildschirmzeit auf die Psyche von Kindern hat.
Dafür wurden 1000 Kinder im Alter von zehn oder elf Jahren nach ihrer täglichen Fernsehzeit befragt und nach ihrer Zeit vor dem Computerbildschirm. Für sieben Tage wurde gemessen, wie lange sie am Tag sitzen und wie lange sie sich körperlich bewegen. Parallel wurde mit einem psychologischen Test ihr psychisches Wohlbefinden eingeschätzt.
Wenn die Kinder mehr als zwei Stunden am Tag vor dem Bildschirm verbringen, nehmen ihre psychischen Probleme zu. Wenn die Kinder dagegen lange sitzen und lesen, geht es ihnen besser. Ergo: Weniger fernsehen und computerspielen (wobei Fernsehen noch schlechter ist) und dafür mehr lesen und sich bewegen.
Roboter entwickeln Neurosen [5]
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber von den ganzen miesen Beiträgen, die so tun, als wären sie Wissenschaftsjournalismus (wie dieser hier), fühle ich mich schmutzig und muss mir immerzu die Hände waschen. Doch Solidarität naht: Bald sind auch Roboter nicht mehr sicher vor psychischen Schäden.
Andrei Khrennikov von der schwedischen Linnaeus University arbeitet jedenfalls, wie er in der Zeitschrift Paladyn [6] schreibt, an Computermodellen mit Unterbewusstsein. Dabei stützt er sich auf psychoanalytische Konzepte. Zumindest ist es ein Versuch zu Freuds Ehrenrettung. Wenn sich seine Konzepte schon nicht in Bezug auf den Menschen bewahrheiten, vielleicht kann man sie einfach in Computern simulieren. Dann wäre gewissermaßen doch etwas dran.
Alan Wagner und Ron Arkin meinen, sie hätten so etwas bereits geschafft. Im International Journal of Social Robotics schreiben sie [7] über ihr Experiment mit zwei Rovio-Robotern, ein Versteckspiel. In der Vorbereitungsphase lernten die Roboter, dass Stifte umfallen, wenn sie dagegenfuhren. Im Spiel fuhr ein Roboter gegen einen Stift und versteckte sich dann anderswo. Sein Gegenspieler suchte ihn vergeblich beim umgefallenen Stift. Für Wagner und Arkin belegt das Experiment, dass die Roboter über eine „Theory of Mind“ verfügen, dass sie sich in ihr Gegenüber hineinversetzen könnten, aber das ist sehr umstritten.

Dreht sie sich doch nicht? Befindet sich die Erde tatsächlich im Zentrum des Universums? Eine Gruppe von christlichen Fundamentalisten vertritt einen neuen Geozentrismus und gebraucht pseudo-wissenschaftliche Argumente für ihre „Theorie“, entnommen vor allem Einsteins Relativitätstheorie. Die versteht nämlich keiner, also kann man auch behaupten, dass sie sonstetwas aussagen würde.
Und nein: Galileo hatte nicht unrecht.
Allversöhnung versus Konfrontation [9]
Der alte Streit zwischen Kuschelatheisten und den Neuen Atheisten hat in den USA neue Dimensionen angenommen. Inzwischen nennen sich die Neos parodistisch „Gnu Atheists“, was in der englischen Aussprache genauso klingt wie „New Atheists“. Die andere Seite nennen sie „Accommodationists“, also „Entgegenkommler“ (als Personenbezeichnung existiert das Substantiv „accommodation“ eigentlich nicht).
Auf der Secular Humanism Conference [10] sind die Parteien aneinandergeraten. Die Stellungnahme von P.Z. Myers, einem Gnu-Atheisten, kann man auf seinem Blog [9] nachlesen. Myers Fazit:
„Nennt uns einfach negativ, oder einfach wütend, oder einfach antireligiös, und ihr seid nicht aufmerksam gewesen. Ihr habt unsere Bücher nicht gelesen, noch unsere Artikel, um unsere Position zu verstehen.
Was einige Leute verwirrt haben mag, ist allerdings, dass wir auch glauben: Man kann die Wahrheit nicht lieben, ohne Lügen zu verabscheuen. Dass ein ehrlicher Weg, sich mit diesen Lügen auseinanderzusetzen, darin besteht, sie offen anzugehen, direkt und nicht apologetisch. Während manche das Entgegenkommen gegenüber unvertretbaren Verzerrungen der Wahrheit als strategische Option rationalisieren mögen, gibt es eine Reihe von uns, welche dieses Prinzip für eines halten, bei denen wir keine Kompromisse eingehen werden.“
Wer sich für einen Podcast mit P.Z. Myers und dem Entgegenkommler Chris Mooney interessiert, findet es bei Point of Inquiry [11], leider mit einer parteiischen und unfähigen Moderatorin.
Werden Fundamentalisten die Erde beherrschen? [12]
Der Religionswissenschaftler Michael Blume wurde Zeuge der letzten Presseschau, wo er nicht gut weggekommen ist. Er hat auf die Kritik geantwortet. Da wir diese Auseinandersetzung seit einer Weile haben, müsste ich schon unter Gedächtnisverlust leiden, wenn er nicht vorher etwas anderes gesagt hätte, aber seine neue Position ist weitaus eher vertretbar – mit einer gewichtigen Ausnahme. Hier zunächst einige Auszüge aus seinen Antworten:
1. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen erforschen die Evolution von Religiosität und Religionen, wie es übrigens auch schon Charles Darwin in seiner „Abstammung des Menschen“ mit teilweise sehr guten Begriffen und Hypothesen getan hat. Evolutionärer Erfolg ist aber a) immer nur historisch und kontextuell erfassbar und b) nicht einfach mit „besser“ oder „wahr“ gleich zu setzen. (Was auch schon Darwin selber so sah, der ja kein Problem damit hatte, Hypothesen zur biologischen und kulturellen Evolution von Religiosität und Religionen hin zu einem Monotheismus mit seinem Agnostizismus zu vereinbaren. Können Sie alles in „Abstammung des Menschen“ nachschlagen!) Das sehe ich auch so und betone auch ich immer wieder, auch ausführlich z.B. am Ende meines Homo religiosus-Artikels. Wie Religiosität und Religionen evolvieren ist doch eine völlig andere Frage als die, ob Religion „gut“ sei (von welchem normativen Standpunkt aus?) oder ob Gott existiert. David Sloan Wilson oder Susan Blackmore sind weiterhin Atheisten, obwohl sie das evolutionäre Potential von Religiosität sehen.
2. Ich behaupte überhaupt nicht, dass Religion eine „Adaption“ wäre. Es könnte nach derzeitigem Kenntnisstand doch mindestens genausogut z.B. als Exaptation bezeichnet werden. Denn was Sie hier ja auch nicht mehr bestreiten, ist das Potential von Religion(en), über Generationen hinweg den Reproduktionserfolg zu erhöhen, also potentiell adaptiv zu sein. Das reicht aber noch lange nicht aus, um von einer Adaption zu sprechen – es gibt dazu unterschiedlichste und noch viel weiterreichende Definitionen und ich denke nicht, dass diese Fragen schon beantwortet sind. Da haben wir noch Jahre an interdisziplinären Forschungen und Diskussionen vor uns.
Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin wird bewusst oder unbewusst von weltanschaulichen Vorannahmen beeinflusst. Deswegen lese ich die Arbeiten und Argumente z.B. von Richard Dawkins, Susan Blackmore, Eckart Voland, F.A. von Hayek etc. und vieler anderer, bekennender Atheisten und Agnostiker mit besonderem Interesse – denn sie formulieren ganz eigene und damit anregende und wichtige Perspektiven, Einsichten und Argumente. Und noch spannender wird es, wenn der kritisch-konstruktive Dialog miteinander läuft.
Und was die Frage der Kritik angeht: Ich finde, dass es auch Religionskritik in einer freien Gesellschaft unbedingt braucht. Dazu gehört auch die Erinnerung an Gräueltaten im Namen der Religion(en) wie z.B. die Kreuzzüge oder die Theokratie im Iran. In gleicher Weise muss aber auch Kritik an jeder anderen weltanschaulichen Position, z.B. am Atheismus bzw. Antitheismus möglich sein – und an deren Missbrauch z.B. durch den Stalinismus oder das Regime in Nordkorea.
Ich weise lediglich dahin, dass Atheismus und vor allem Antitheismus ebenso mißbraucht wurden und werden wie religiöse Glaubenslehren. An dieser Stelle kann ich Ihnen nur zustimmen – „die tatsächliche Ursache: Unfreiheit und zu viel Macht bei einer einzigen Partei. Ob die führenden Ideologen Kommunisten sind oder Mullahs, ist ziemlich egal.“
Aus diesem Grund habe ich z.B. im Nordkorea-Artikel ja auch nicht „den“ Atheismus kritisiert, sondern den „verordneten Atheismus“! Ganz genau so, wie ich „verordneten Theismus“ ablehne.
Religiosität als Exaptation?
Die gewichtige Ausnahme ist seine Position, dass Religiosität zwar nicht unbedingt eine Adaption sein muss, aber nur, weil sie ebensogut eine Exaptation sein könnte. Aber eine Exaptation ist nicht dasselbe wie ein Nebenprodukt und genau diese Möglichkeit scheint er auszuschließen. Und da liegt das Problem, da viele Wissenschaftler wie Richard Dawkins und Sam Harris die Religiosität als genau das ansehen, ein Nebenprodukt.
Eine Exaptation ist ein Nebenprodukt auf dem Weg zur Adaption. Religiosität könnte, wie Blume vermutet [12], eine aus „der Verschaltung älterer Gehirnfunktionen (wie z.B. Agency Detection, Theory of Mind oder Narrativität)“ evolvierte Exaptation sein. Wie Blume schreibt: „Damit ist ein Merkmal gemeint, dass durch die 'kreative Zweckentfremdung' früherer Strukturen entstanden und adaptiv geworden ist - gewissermaßen ein Zwischenschritt zwischen Nebenprodukt und Adaption.“
Das würde bedeuten, dass religiöse Menschen der nächste Schritt in der Evolution wären, so eine Art X-Men. Atheisten gehören dann zu einer aussterbenden Spezies.
Als Adaption wäre Religiosität in dem Sinne angeboren, wie es der Sexualdrang ist. Dann ergäbe es ebensoviel Sinn, den Leuten einzureden, dass sie keinen Sexualdrang hätten, wie, dass es keine Götter gäbe. Es wäre reine Zeitverschwendung. Für diese Menschen gäbe es Götter in der selben Art, wie es für uns Farben gibt oder Hitze und Kälte oder den sauren Geschmack einer Zitrone. Götter wären aus ihrer subjektiven Perspektive absolut real. Und religiöse Menschen glauben das, weil es dazu führt, dass sie mehr Kinder haben – vor allem streng religiöse Menschen haben meist in der Tat mehr Kinder.
Was spricht nun dagegen, dass Religiosität eine Adaption oder eine Exaptation ist? Gewichtige Gegenargumente von dem Biophilosophen Edgar Dahl und von mir sind in einem älteren Artikel zusammengefasst [13]. Hinzu kommt, und das ist vielleicht noch wichtiger, dass bislang weder eine Hirnregion entdeckt wurde, die speziell für den Glauben an übernatürliche Agenten zuständig ist, noch eine Reihe von Genen mit dieser gesonderten Funktion. Vielmehr sieht es ganz danach aus, als würden die selben Gene und Hirnregionen für Religiosität zuständig sein, wie für andere menschliche Eigenschaften.
All dies sind zwar gewichtige Gegenargumente, aber eine zwingende Widerlegung ergeben sie nicht. Michael Blume könnte recht haben, dass Religiosität eine Exaptation ist. Sollte dem so sein, steht die Menschheit vor sehr großen Schwierigkeiten. Es sind nämlich nicht die liberalen, den Glauben irgendwie gut findenden Wissenschaftler wie Michael Blume, die mehr Kinder bekommen, sondern Fundamentalisten schlagen alle anderen in reproduktiven Angelegenheiten. Das stimmt zwar unabhängig von der Frage, wie Religiosität aus evolutionärer Sicht zu verstehen ist, aber es wäre unendlich schwieriger, etwas gegen den Trend der Fundamentalisisierung der Massen zu tun, wenn Blume recht hätte.
Wie in der letzten Presseschau angemerkt, gibt es weltweit einen Trend in die Richtung, dass es immer weniger Leid gibt, immer mehr Wohlstand für alle. Aber es gibt auch den anderen Trend, der in die Richtung der Fundamentalisierung weist. Der Soziologe Eric Kaufmann kommt in seinem neuen Buch „Shall the Religious Inherit the Earth?“ sogar zu dem Ergebnis [14]: „Ohne eine Ideologie der sozialen Kohäsion kann der Fundamentalismus nicht aufgehalten werden. Die Religiösen werden die Erde besitzen.“
Falls Religiosität allerdings eine Exaptation oder Adaption ist, gibt es keine Ideologie, die noch mehr Kinder zur Folge hätte. Das Ergebnis wäre eine Welt voller Fundamentalisten. Es ist kaum begreiflich, wie irgendjemand, inklusive Fundamentalisten selbst, das für einen wünschenswerten Trend halten kann (denn es werden nicht alle Anhänger der selben Religion sein, sondern Fundamentalisten, die sich gegenseitig bekämpfen).
Sollte das zutreffen, ist nicht ersichtlich, was man dagegen tun könnte. Michael Blume scheint die Aussicht nicht sonderlich zu beunruhigen. Wenigstens einer wäre glücklich in einer Welt, die von religiösen Fanatikern beherrscht wird.
Sonderteil Spaghettimonster
Hans Miesbeck hat uns auf eine große Nachlässigkeit hingewiesen, was unsere Berichterstattung über das Fliegende Spaghettimonster angeht. In der Tat grenzt unsere Nichtbeachtung des nudeligen Überlords an Blasphemie. Darum hier eine Fotosession mit dem Monster. Ramen.
Das Monster macht sich gut als Weihnachtsschmuck (Bild: bsaltert.com):

Alte asiatische Darstellungen zeugen von der Unzucht des Monsters (Bild: ectomo.com):

Wer hier ein Nudelmonster erkennt, ist psychisch gesund (Bild: travisjmorgan.com):

Ich segne dich im Namen meiner Hackfleischbällchen (Bild: food2.com)

AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-483-869.jpg
[2] http://www.heise.de/tp/blogs/6/148549
[3] http://www.bristol.ac.uk/enhs/
[4] http://pediatrics.aappublications.org/cgi/content/abstract/peds.2010-1154v1
[5] http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33419/1.html
[6] http://www.springerlink.com/content/mw74422796793tq7
[7] http://www.springerlink.com/content/p8085451p55u6141/
[8] http://www.heise.de/tr/blog/artikel/Und-sie-bewegt-sich-doch-nicht-1083638.html
[9] http://scienceblogs.com/pharyngula/2010/10/post_6.php?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:+scienceblogs/pharyngula+(Pharyngula)
[10] http://secularhumanism.org/laconference/
[11] http://www.pointofinquiry.org/pz_myers_jennifer_michael_hecht_chris_mooney_new_atheism_or_accommodation/
[12] http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2010-10-09/ist-religiosit-t-eine-adaption
[13] http://hpd.de/node/7545?page=0,3
[14] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/sie-lebt-igor?page=0,3