
Presseschau | 06.10.2010
Oh doch! Wieder und immer wieder, bis die Welt endlich zur Vernunft kommt!
Erneut droht ein heilloses Durcheinander verschiedenster Themen, eines uninteressanter als das andere, albern, anmaßend und einfach hässlich. Anstatt sich in aller Sachlichkeit auf die neueste Forschung zu bescheiden, führt das neoatheistische Tourette-Syndrom obendrein zu ärgerlichen Seitenhieben auf die Religion. Am besten, man ignoriert es einfach.
Alles wird gut [2]
Wie bereits in Die frohere Botschaft [3] dargestellt, wird alles gut. Wirklich so ziemlich alles, was für die Menschheit wichtig ist, verbessert sich überall. Die Lebenserwartung steigt weltweit an, die Unterernährung von Kindern nimmt weltweit ab, die Kindersterblichkeit nimmt ab, Gewalt nimmt ab, Krankheiten nehmen ab, das Bevölkerungswachstum nimmt ab, die Einkommen pro Kopf
steigen an – bald können wir unseren Weltverbesserer-Laden dichtmachen, weil es nichts mehr grundlegend zu verbessern geben wird. Die Verbesserungen gehen einher mit der weltweiten Zunahme von liberalen Demokratien [4] und der Weltfrieden dürfte am Ende dieser Entwicklung auch ins Haus stehen.
Schade, dass wir keine erlösende Ideologie zu verkaufen haben, sonst könnten wir uns der allgemeinen Nörgelei anschließen.
Wie menschlich sind Menschenaffen? [5]
Und wie menschlich sind eigentlich Menschen? Erwachsene Schimpansen adoptieren zum Beispiel verwaiste Jungtiere. Dies tun nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter, weshalb es sich eher um Mitgefühl, als um einen Mutterinstinkt handeln dürfte. Schimpansen benutzen Steine und Holzstücke, um Nüsse zu knacken und sie stutzen Zweige zurecht, um nach Ameisen zu fischen. Um sich von Parasiten zu befreien, kauen Bonobos bestimmte Blätter als Medizin. Und um bei den Damen zu landen, schenken männliche Schimpansen ihnen ein Stück Fleisch. Sie können es ja mal bei der Angebeteten versuchen. Verlobungsringe sind schließlich sehr teuer.
Den „Clash of Cultures“ gibt es bei Schimpansen allerdings ebenfalls. Sie führen sogar Vernichtungsfeldzüge gegen Mitglieder anderer Kulturen. Heilige Affenkrieger halten gar nichts von Dönershops und China-Restaurants. „Schon unsere Vorväter haben ihre Zweige so gestutzt wie wir! Wir werden diese fremden Avantgarde-Zweigstutzer hier nicht dulden!“
Evolutionsbeweis durch endogene Retroviren [6]
Hä? Sie fragen ganz richtig. Zum Beispiel das HI-Virus ist ein Retrovirus. Es lebt noch immer in den 80ern, hört „Saturday Night Fever“ und kommt nicht von dem Gedanken an die schöne Blonde los, die es damals in der Disko nicht angesprochen hat, weil es zu schüchtern war.
So viel also zu diesem Thema. Tatsächlich wandeln Retroviren ihre RNA in DNA um und bauen diese in eine Wirtszelle ein. Wenn sie das mit einer Keimzelle (Sperma- oder Eizelle) machen und dabei den Wirt und die Zelle nicht töten, wird ihre DNA unter Umständen weitervererbt. Die DNA des Menschen besteht zu 8% aus endogenen Retroviren oder ihren Überresten. Es ist fast so, als hätte uns eine Mücke nicht nur gestochen, sondern wäre sogleich mit uns verschmolzen.
Nun hat man herausgefunden, dass wir mit Schimpansen 384 vollständige Retroviren an übereinstimmenden Stellen teilen. Dies lässt sich nur evolutionär erklären. Oder mit einem Schöpfer, der zugleich genial und vollkommen wahnsinnig ist.
Die schönsten Atombomben-Detonationen [7]
Nach „Germany's Next Topmodel“ gibt es nun eine Auswahl der faszinierendsten Fotos – bislang unter Verschluss gehalten – von Atombomben-Detonationen, welche die New York Times nun veröffentlichte. Hat zwar nichts mit Evolution zu tun, höchstens mit ihrem potenziellen Ende, aber die Atombombe ist so eine feine Erfindung, dass wir sie kaum unseren Lesern vorenthalten können.
Hütet euch vor falschen Propheten [8]
Neben anderen Soziologen argumentieren vor allem Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch „The Spirit Level“, dass Einkommensungleichheit nicht nur den Ärmsten in der Gesellschaft schadet, sondern allen. Angeblich leiden Gesellschaften mit hoher Einkommensungleichheit unter hoher Kindersterblichkeit, hoher Kriminalität, hohen Teenagerschwangerschaften, geringerer Lebenserwartung und weiteren nachteiligen Faktoren.
Der Soziologe Peter Saunders argumentiert in dieser Arbeit, dass die Einkommensungleichheit nicht die Ursache ist von diversen Gesellschaftskrankheiten und dass meistens nicht einmal die starken Korrelationen, die Wilkinson und Pickett anführen, einer Überprüfung standhalten. Zum Beispiel gibt es nur im Falle der USA einen Zusammenhang zwischen hohen Mordraten und hoher Einkommensungleichheit, was, wie Saunders vermutet, vielleicht eher an den Waffengesetzen liegen könnte. Der Zusammenhang zwischen geringer Einkommensungleichheit und hoher Lebenserwartung lässt sich nur in Japan feststellen und könnte ebenso an der Ernährung der Japaner liegen oder an genetischen Faktoren.
Zudem kann man sehen, dass sich viele der Zusammenhänge nur bei skandinavischen Ländern im Vergleich zu angelsächsischen Kulturen aufzeigen lassen. Obendrein sind einige Gesellschaftskrankheiten in Ländern mit geringeren Einkommensungleichheiten weiter verbreitet, darunter Selbstmord und Alkoholmissbrauch. Derweil sind die Länder, in denen sich die Lebenserwartung und die Kindersterblichkeit am meisten verbessert haben, zugleich diejenigen, in denen die Einkommensungleichheit in den letzten 30 Jahren am stärksten angestiegen ist.
Statt der Einkommensungleichheit sieht Saunders historische und kulturelle Faktoren als die Ursachen für Gesellschaftskrankheiten an. Demnach ließen sich die Lebensbedingungen nicht einfach durch eine bestimmte Sozialpolitik grundlegend verbessern.
Actionspiele steigern Rechenpower des Gehirns [9]
Eine neue Studie von Wissenschaftlern der Universität von Rochester hat gezeigt, dass Versuchspersonen, die gerade ein Action-Videospiel (z.B. ein „Killerspiel“) gespielt haben, schneller Entscheidungen treffen können, dabei allerdings genauso treffsicher wie jene, die keine Action-Videospiele gezockt haben. Es war jedoch eine Kurzzeit-Studie und man fragt sich, ob die Entscheidungsgeschwindigkeit durch Actionspiele auch auf lange Zeit erhöht werden kann. Wenn ja, würde es sich für Chirurgen, Feuerwehrmänner und andere Berufsgruppen, die schnell Entscheidungen treffen müssen, vielleicht empfehlen, eine Runde Left for Dead 2 täglich einzunehmen.
Das Harris-Paket
Sam Harris neues Buch „The Moral Landscape“ ist gerade erschienen und darum gibt es allerlei Vorschaumaterialien im Netz.
1. Kann es eine Wissenschaft von Gut und Böse geben? [10]
In seinem Buch (siehe unsere Beiträge [11] dazu) behauptet Harris, dass der naturalistische Fehlschluss eigentlich keiner ist: Man kann Sollen vom Sein ableiten und es gibt eine objektiv begründbare Ethik. Mit seinen eigenen Worten:
„Die Frage, wie Menschen im 21. Jahrhundert leben sollten, hat viele rivalisierende Antworten – und die meisten davon sind mit Sicherheit falsch. Nur ein rationales Verständnis des menschlichen Wohlbefindens wird Milliarden in die Lage versetzen, in Frieden miteinander zu leben, konvergierend in den selben sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Zielen. Eine Wissenschaft des menschlichen Gedeihens mag uns weit entfernt scheinen, aber um sie zu erreichen, müssen wir zunächst anerkennen, dass dieses intellektuelle Terrain überhaupt existiert.“
2. Videos
Sam Harris war Gast bei der „Daily Show“, ein amerikanisches Comedy-Nachrichtenmagazin. Die Aufzeichnung kann man sich hier ansehen [12]. Außerdem hat er mit seinem Verlag zwei Videos gedreht, um das Buch vorzustellen:

Denn sie wissen nicht, was sie glauben [13]
Laut einer US-amerikanischen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Pew wissen Gläubige in den USA nicht viel darüber, was sie und andere glauben. Atheisten und Agnostiker wissen besser über die Glaubensinhalte der Weltreligionen Bescheid als alle anderen. Natürlich bedeutet das auch, dass die meisten Gläubigen nicht wirklich glauben, was sie offiziell glauben sollten.
54% der Protestanten wissen nicht, dass Martin Luther die Reformation begonnen hat. 45% der Katholiken wissen nicht, dass sich Hostien laut Kirchenlehre wirklich in Körper und Blut von Jesus Christus verwandeln sollen und diese nicht nur symbolisieren. Nicht einmal die Hälfte der Amerikaner weiß, dass der Dalai Lama ein Buddhist ist. Dass der Koran das heilige Buch der Muslime ist, wissen nur 54%. Ganze 48% der amerikanischen Gläubigen sagen, dass sie selten oder nie ein Buch (außer ihrem heiligen Text) über ihre eigene Religion lesen oder eine Webseite darüber. 70% der US-Gläubigen lesen selten oder nie ein Buch oder eine Webseite über andere Religionen.
Der atheistische Philosoph Daniel Dennett hat über die Ergebnisse geschrieben [14]: „Je mehr du über Religionen weißt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass du an religiöse Glaubensinhalte und Mythen glaubst und mit desto höherer Wahrscheinlichkeit bist du ein Atheist oder Agnostiker, ob du nun offiziell einer Kirche angehörst, sogar Kleriker dort bist, oder nicht.“
Widerruf der Religion-Virus-Hypothese – wie Michael Blume Atheisten bekehrt [15]
Der Religionswissenschaftler Michael Blume ist viel unterwegs, um die Fachwelt von seinem Glauben zu überzeugen, dass Religiosität eine Adaption sei. Die generelle Tendenz geht in die andere Richtung und die Nebenprodukt-Hypothese setzt sich seit Pascal Boyers Buch „Religion Explained“ immer mehr durch. Richard Dawkins ist inzwischen auch ein Mitglied des Nebenprodukt-Clans [16] geworden.
Eine Ausnahme von der Regel ist allerdings Susan Blackmore, die bekannt geworden ist durch ihre Popularisierung der Memetik. Kaum zu glauben, dass Blackmore wirklich, wie sie in einem Artikel schreibt [17], durch einen Vortrag von Blume selbst überzeugt worden ist. Mit dem „Religion macht Kinder“-Schmus hat sie gleich das ganze Paket eingekauft: Sie glaubt jetzt, dass Religion glücklicher macht, gesünder macht, dass Gläubige großzügiger sind, weniger betrügen und mehr kooperieren. Alles höchst umstritten. Und dabei war Bruce Hood [18] auch ein Sprecher bei der Konferenz [19], die zu Blackmores Bekehrung führte. Vielleicht hat sie da gerade geschlafen.
Blume gehört zum Forschernetzwerk Evolutionary Religious Studies [20]. Und das wird finanziert von der Templeton-Stiftung, deren Hauptziel darin besteht, Religion gut aussehen zu lassen. Das kommt eben davon, wenn man seine Meinung wegen einer einzigen Konferenz grundlegend verändert. Man kann sich die Recherche über die Hintergründe ersparen und einfach bequem übernehmen, was da so gepredigt wird. 2010 hat Blume einen Preis von der Evangelischen Akademie Villigst für Nachwuchswissenschaftler für seine „Vermittlungen“ bekommen. Wenn sogar engagierte Atheisten auf seinen Quark hereinfallen, dann hat er den auch verdient. Herzlichen Glückwunsch.
Der schnellste Weg zum Glauben
„Mami, wo muss ich mir auf den Kopf hauen, um religiös zu werden?“ Irgendwann stellt jedes Kind, das in einer gesunden Umgebung aufgewachsen ist, diese Frage. Anstatt sich verlegene Ausflüchte auszudenken, können Sie nun dank des exorbitanten Evo-Magazins diese Frage beantworten!
Wie neuropsychologische Studien mit Patienten ergeben haben, die an Gehirnschäden litten, lautet die Antwort: „Meine liebe Susie, wenn du religiöse Erfahrungen machen möchtest, dann musst du nichts weiter tun, als deinen rechten Scheitellappen zu beschädigen oder ihn mit Hilfe von Meditation auszuschalten!“ Vergessen Sie nicht, Ihre Tochter unbedingt "Susie" zu nennen, auch wenn sie gar nicht so heißt.
Tibetanische Mönche, die sich in tiefster Meditation befinden, können Gehirnscans zufolge ihren rechten Scheitellappen vorübergehend deaktivieren. Dieser ist zuständig für die Selbstwahrnehmung im Verhältnis zu anderen Objekten im Raum, Bewusstsein über das eigene Selbst, wie es andere in sozialen Situationen wahrnehmen und für die Fähigkeit, die eigenen Stärken und Schwächen kritisch zu bewerten. Schäden an der rechten Hemisphäre führen zu einer Reduzierung der Fähigkeit des Selbst, in der unmittelbaren Umgebung und Zeit zu funktionieren und sich als Körper im Raum wahrzunehmen. Die Erfahrungen, die man bei Abschaltung und bei einem Defekt dieser Hirnregion macht, werden in einer entsprechenden Kultur tendenziell religiös gedeutet.
Die meisten religiösen Menschen haben natürlich keinen Gehirnschaden, sondern sie gehen nur in die Kirche, weil sie dort Kinderlieder singen können, ohne sich dafür schämen zu müssen.
Quelle: Rees, Tom: The Atheist Spot. Free Inquiry 30/6. S. 44.
Je ärmer, desto gläubiger [21]
In der Regel sind die ärmsten Länder die gläubigsten. In Bangladesch und Niger ist praktisch jeder religiös; in Jemen, Indonesien, Malawi und anderen sehr armen Ländern sind es rund 99%. Tendenziell lässt sich Religiosität tatsächlich am Pro-Kopf-Einkommen messen. Bei Nationen mit einem Einkommen von 0-2000 US-Dollar sind 95% gläubig und bei Nationen mit einem Pro-Kopf-Einkommen über 25 000 US-Dollar sind es nur 47%. Die Religiosität steigt mit der persönlichen Anspannung und die ist in armen Ländern höher. Wir schalten dabei um auf eine besonders empfindliche Mustererkennung und ziehen schneller instinktive Schlüsse. Das Ergebnis ist, dass man ein Gesicht in den Wolken mehr sieht, als da ist.
Im Grunde ist diese Religions-Sache einigermaßen geklärt. Die armen Länder müssen nur reicher werden und damit steigt die Wahrscheinlichkeit rapide an, dass sie weniger religös werden. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Estland und Russland, die ehemaligen Sowjet-Länder. Die sind relativ arm, aber trotzdem kaum religiös. Auf der anderen Seite gibt es die Vereinigten Staaten, die reich sind, aber sehr religiös. Hier spielen kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle. Allerdings kann man feststellen, dass die Religion in den USA meist eine erheblich zivilisierte Form annimmt, als die extremen Fundamentalismen, die sich gerade in der Dritten Welt ausbreiten.
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-481-867.jpg
[2] http://blogs.discovermagazine.com/gnxp/2010/10/things-are-looking-up-for-the-worlds-poor/
[3] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/bessere-botschaft?page=0,0
[4] http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=363&year=2009
[5] http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2010/0803/001_affe.jsp
[6] http://ag-evolutionsbiologie.de/app/download/3733073802/evolutionsbeweis-retroviren.html
[7] http://www.nytimes.com/interactive/2010/09/14/science/20100914_atom.html
[8] http://www.policyexchange.org.uk/images/publications/pdfs/Beware_False_Prophets_Jul_10.pdf
[9] http://kotaku.com/5636665/video-games-help-us-make-faster-decisions?skyline=true&s=i
[10] http://www.huffingtonpost.com/sam-harris/can-there-be-a-science-of_b_748627.html
[11] http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/eine-landschaft-moral
[12] http://www.thedailyshow.com/watch/mon-october-4-2010/sam-harris
[13] http://pewforum.org/Other-Beliefs-and-Practices/U-S-Religious-Knowledge-Survey.aspx
[14] http://www.nydailynews.com/opinions/2010/10/03/2010-10-03_the_unbelieveable_truth_why_america_has_become_a_nation_of_religious_knownothing.html
[15] http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/personen/2010-09-18/widerruf-der-religion-virus-hypothese-wie-mich-susan-blackmore-beeindruckte
[16] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/aai-2010
[17] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/belief/2010/sep/16/why-no-longer-believe-religion-virus-mind
[18] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/wissenschaft-ist-ohne-konkurrenz
[19] http://www.bris.ac.uk/arts/birtha/conferences/explaining_religion
[20] http://evolution.binghamton.edu/religion/
[21] http://www.gallup.com/poll/142727/religiosity-highest-world-poorest-nations.aspx