Ethik | 20.08.2010
Am 6. Juli 2010 hat der Bundesgerichtshof die Präimplantationsdiagnostik endlich für rechtmäßig erklärt. Diese Entscheidung war längst überfällig. Denn niemand, der bei Verstand war, konnte nachvollziehen, warum die Pränataldiagnostik in Deutschland erlaubt, die Präimplantationsdiagnostik hingegen verboten war.
Von Edgar Dahl
Dies hat die Bedenkenträger unseres Landes jedoch nicht daran gehindert, sogleich ein Klagelied anzustimmen und den Untergang des Abendlandes zu verkünden. Wie nicht anders zu erwarten, zählten hierzu „die üblichen Verdächtigen“ – der Augsburger Bischof Anton Losinger, der Bundesbeauftragte für Behindertenfragen Hubert Hüppe und der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Alexander Kissler.
Wie es sich für bioethische Debatten in Deutschland inzwischen gehört, hat Bischof Losinger das Urteil des Bundesgerichtshofes kurzerhand als einen Angriff auf die „Würde des Menschen“ bezeichnet. Hubert Hüppe meinte sogar, dass der BGH den Eltern das Recht eingeräumt habe, zwischen „lebenswertem und lebensunwertem Leben“ zu entscheiden. Und Alexander Kissler berief sich schließlich auf den inzwischen zu Kreuze gekrochenen Philosophen Jürgen Habermas und behauptete, dass „das richtige oder falsche Genom nun über das Recht auf Existenz“ entscheide.
Juristisch liegt die Legitimität des BGH-Urteils jedoch auf der Hand: Wenn es erlaubt ist, einen mehrere Monate alten Fetus zu töten, muss es selbstverständlich auch erlaubt sein, einen nur wenige Tage alten Embryo zu töten. Nachdem es straffrei ist, einen Fetus abzutreiben, kann es nicht strafwürdig sein, einen Embryo zu verwerfen.
Dass sich Hüppe & Co. gegen die Präimplantationsdiagnostik aussprechen, liegt an ihrem christlichen Weltbild, wonach der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen worden sei und vom Augenblick der Befruchtung an über eine unsterbliche Seele verfüge. In ihren Augen ist daher auch nicht erst das Verwerfen von Embryonen, sondern bereits das Abtreiben von Feten eine „Sünde“.
Wer sich einer katholischen Moraltheologie verschrieben hat, ist denn auch nur konsequent, wenn er gegen das BGH-Urteil aufbegehrt. Was Hüppe, Losinger und Kissler vergessen, ist jedoch, dass wir in einer säkularen Gesellschaft leben, in der Staat und Kirche getrennt sind. Die Regierung eines säkularen Staates hat daher kein Recht, Gesetze zu erlassen, die auf explizit religiösen Annahmen basieren. Denn die Verbindlichkeit eines Gesetzes, das auf bestimmten Glaubensannahmen beruht, würde zu recht von all den Bürgern, die diesen Glauben nicht teilen, sogleich in Frage gestellt.
Aus einer säkularen Perspektive gibt es nicht den geringsten Anlass für die Annahme, dass eine befruchtete Eizelle bereits mit einem moralisch und juridisch zu schützenden Recht auf Leben zur Welt kommt.
Es gibt nach wie vor unterschiedliche Ansichten darüber, worauf Rechte überhaupt beruhen. Die inzwischen am weitesten akzeptierte Theorie geht von der Funktion von Rechten aus. Danach sind Rechte dazu da, elementare Interessen zu schützen. So dienen die Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum beispielsweise dem Schutz unseres Interesses an unserem Leben, unserer Freiheit und unserem Eigentum.
Nach diesem bisweilen auch als „korrespondenztheoretisch“ bezeichneten Ansatz kann einem Wesen nur dann ein bestimmtes Recht zukommen, wenn es über dasjenige Interesse verfügt, das durch dieses Recht geschützt werden soll. So kann man leidensfähigen Tieren beispielsweise durchaus ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zusprechen, da wir davon ausgehen dürfen, dass sie ein Interesse daran haben, nicht gequält zu werden. Es wäre jedoch völlig unsinnig, ihnen ein Recht auf Religionsfreiheit einzuräumen, da sie überhaupt keinen Begriff von Religion haben, geschweige denn ein Interesse an der freien Ausübung religiöser Riten.
Wenn man diesen Ansatz zu Grunde legt, ist es offenkundig, dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, Embryonen bestimmte Rechte zuzusprechen. Um Rechte in Anspruch nehmen zu können, muss man schließlich über Interessen verfügen. Ein aus acht Zellen bestehender Embryo ist jedoch kein Wesen, das Interessen hat. Ja, er besitzt noch nicht einmal die neuronalen Voraussetzungen dafür, um überhaupt Interessen haben zu können.
Dass Embryonen keinen Anspruch auf Rechte haben, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass man nun nach Belieben mit ihnen umgehen dürfe. So kann es beispielsweise gute Gründe dafür geben, Embryonen nicht zu trivialen – wie etwa kosmetischen – Zwecken zu opfern. Einer Verwendung von Embryonen zu vitalen Zwecken, wie beispielsweise der Entwicklung von Stammzelltherapien, steht jedoch nichts im Wege.
Wenn Kissler seinem Arikel gegen die Präimplantationsdiagnostik den Untertitel „vorgeburtliches Körper-Tuning“ gibt, wird deutlich, dass er nicht die leiseste Ahnung hat, wovon er spricht. Wie die Pränataldiagnostik, so ist auch die Präimplanationsdiagnostik eine Methode zur Früherkennung genetischer Defekte und chromosomaler Aberrationen. Mit einer Manipulation des Genoms hat sie nicht das geringste zu tun.
Eine Frau, die im Rahmen der Pränataldiagnostik, wie etwa einer Amniozentese, gesagt bekommt, dass ihr Fetus von einer Trisomie 21 betroffen ist, steht vor der Wahl, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen oder abbrechen soll. Derartige Entscheidungen sind zweifellos nicht leicht. Doch inzwischen gehören sie zum klinischen Alltag. Und die allermeisten Frauen begrüßen es, die Entscheidung, ob sie ein Kind großziehen wollen, im Lichte aller relevanten Fakten treffen zu können.
Die Präimplantationsdiagnostik, die 1990 entwickelt wurde und jetzt gerade 20 Jahre alt geworden ist, wendet sich nahezu ausschließlich an Frauen, die bereits ein oder zwei Kinder mit einer schwerwiegenden genetischen Erkrankung, wie etwa einer Zystischen Fibrose oder Chorea Huntington, zur Welt gebracht haben.
Wenn sich eine Frau, die bereits ein Kind durch Mukoviszidose verloren hat, ein gesundes Kind wünscht, hat sie zwei Möglichkeiten. Sie kann nach jeder Schwangerschaft eine Pränataldiagnostik durchführen lassen und alle Feten, die von der Erkrankung betroffen sind, abtreiben.
Dank der Präimplantationsdiagnostik kann sie aber auch eine In-vitro-Fertilisation in Anspruch nehmen, in deren Zuge vier oder sechs Embryonen gezeugt werden. Sobald die Embryonen aus acht Zellen bestehen, kann man ihnen eine entnehmen und prüfen, ob sie das Gen, das für die Erkrankung verantwortlich ist, enthalten. Wenn sich zeigt, dass von den sechs Embryonen zwei vom Mukoviszidose-Gen frei sind, überträgt man der Frau lediglich diese zwei gesunden Embryonen in ihre Gebärmutter. Auf diese Weise kann sie, ohne eine Vielzahl von Abtreibungen über sich ergehen zu lassen, schließlich ein gesundes Kind bekommen. Und ist es nicht besser, genetisch defekte Embryonen bereits vor einer Schwangerschaft auszusortieren als sie nach einer bereits Monate vorangeschrittenen Schwangerschaft abzutreiben?
Selbst Gegner der Präimplantationsdiagnostik bejahen diese Frage in aller Regel. Dennoch verweisen sie darauf, dass es „kein Recht auf ein gesundes Kind“ gebe. Damit haben sie zweifellos recht. Es gibt nicht nur kein Recht auf ein gesundes Kind, es gibt noch nicht einmal ein Recht auf ein eigenes Kind! Wie sollte ein solches Recht auch aussehen? Woher sollten beispielsweise die Kinder kommen, auf die unfruchtbare Paare ein Recht zu haben meinen?
Auch wenn Paare kein Recht auf ein gesundes Kind haben, haben sie doch unbestreitbar das Recht, reproduktionsmedizinische Technologien in Anspruch zu nehmen, die ihnen zu einem gesunden Kind verhelfen können. Und die Präimplantationsdiagnostik ist eine solche Technologie. Statt sie zu verteufeln, sollten wir sie daher auch begrüßen – ganz gleich, was Losinger, Hüppe und Kissler von ihr halten.
Edgar Dahl ist Philosoph und spezialisiert auf Bioethik. Er lehrt an der Uni Münster [2], betätigt sich als Wissenschaftsjournalist und betreibt den Blog Libertarian [3]. Sein neuestes Buch ist Wer zur Hölle will schon in den Himmel? [4]
Alle Fotos: morguefile.com [5]
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-465-817.jpg
[2] http://campus.uni-muenster.de/1225.html
[3] http://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/libertarian/
[4] http://www.science-shop.de/artikel/1042087
[5] http://www.morguefile.com/