Presseschau | 10.04.2010
Amerikanische Wissenschaftler schämen sich für die Ahnungslosigkeit der US-Bevölkerung, der echte Missing Link wurde mal wieder gefunden, der Glaube an das Paranormale wird enträtselt und viktorianische Frauen sprechen über Sex. Außerdem wollen die Anthropologen auch ein hartes Problem lösen und der Ku Klux Klan distanziert sich von christlichen Fundamentalisten. Das bunte Treiben von Wissenschaft und kritischen Denken wird Sie auch diesmal wieder faszinieren!
Schon wieder ein Missing Link. Nun wurde nach dem Ardipithecus in Afrika ein weiterer neuer Hominid entdeckt, der rund zwei Millionen Jahre alt ist und wohl am besten taugt als das realweltliche Gegenstück zum legendären Bindeglied zwischen Mensch und Affe. „Australopithecus sediba“ wurde er getauft, wobei „sediba“ so viel heißt wie „Urquell“ – damit ist der erste „Mensch“ gemeint. Im Grunde gibt es mehrere Hominiden, die als Missing Link durchgehen können, aber Australopithecus sediba als guter Kletterer, der trotzdem aufrecht läuft, liegt offenbar mehr „dazwischen“ als die Konkurrenz. 180 Fragmente von vier Individuen wurden bislang entdeckt.
Ko-Evolution von Mensch und Technik [3]
Der Mensch entwickelt parallel zu seiner Technologie. Aber wie funktioniert das? Der Technikphilosoph Dr. Klaus Erlach geht auf Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie zwischen natürlicher Evolution und Technologieentwicklung ein. Menschen handeln „bewusst und mit konkreten Absichten“, während die natürliche Selektion automatisch abläuft und an Genen ansetzt. Ein kulturelles Äquivalent zu Genen wurde zwar in Form der Meme vorgeschlagen, aber nicht nachgewiesen. Auch könne man beim technischen Fortschritt von einer gewissen Zielgerichtetheit sprechen, denn „die technische Leistung im Sinne von Funktionsvielfalt, Ressourceneffizienz, Geschwindigkeit, Kosten oder Qualität erscheint doch meist höher als jeweils zuvor“.
Wahrscheinlich hat sich die DNA, der Bauplan der Lebewesen, aus der RNA entwickelt. Wie die RNA dazu kam, sich selbst zu vermehren, das wird gerade in Labortests überprüft. Die Antwort auf die Frage, woher das Leben kommt, wird eine chemische Formel sein.
National Science Bord unterdrückt Umfrageergebnisse [5]
Das US-amerikanische National Science Bord, welches der National Science Foundation vorsteht und damit beauftragt ist, die wissenschaftliche Bildung der Amerikaner jährlich zu überprüfen, hat zwei Ergebnisse aus ihrer aktuellen Untersuchung herausgenommen: Nur 45% der Amerikaner glauben an die Evolution („Menschen, wie wir sie heute kennen, haben sich aus früheren Spezies entwickelt“) und nur ein Drittel glaubt an den Urknall („Das Universum begann mit einer gigantischen Explosion“). Die Ergebnisse sind nicht ungewöhnlich im Vergleich zu denen der Vorjahre und es ist unklar, warum das NSB sie nicht veröffentlichte (außer in der gelöschten Passage, die trotzdem online zu finden ist und die der Neurologe Steven Novella ausgegraben hat). Vielleicht werfen diese Meinungen der Amerikaner ein schlechtes Licht auf die einzige Nation, die bewusst auf den Prinzipien der Aufklärung gegründet wurde.
Boshaftigkeit ist das Gegenteil von Verwandtenaltruismus [6]
Im Grunde nichts Neues. Doch jedes Verhalten benötigt auch eine biologische Erklärung und die Erklärung von boshaftem Verhalten – ein Verhalten, das anderen ohne eigene Vorteile schadet – ist das Gegenstück zum Verhalten, das genetischen Verwandten nutzt. Boshaftigkeit kann biologisch Sinn ergeben, wenn die eigenen Verwandten vom boshaften Verhalten anderen gegenüber profitieren.
Der Forscher Tom Rees ist in dem Zusammenhang auf einen amüsanten Kommentar zur aktuellen Studie über Boshaftigkeit von einem christlichen Blogger [7] gestoßen: „ […] stellen fest, dass ‚ein strikt monogames Leben, in dem Weibchen sich nur mit einem Männchen während ihres gesamten Lebens paaren, entscheidend für die Evolution der Eusozialität war.‘ Dies bietet eine sehr natürliche wissenschaftliche Basis für die zentrale Bedeutung von ‚Du sollst nicht ehebrechen‘.“
Leider weiß unser christlicher Freund nicht, was der Fachbegriff „Eusozialität“ bedeutet. Damit sind Gesellschaften nach Vorbild des Bienen-Staates gemeint: Eine dominante Königin mit einem sklavischen Arbeiterheer, darunter ihre sterilen Töchter. Wenn das die Gesellschaft ist, die sich Christen wünschen, können sie sich weiterhin über die Bedeutung der Monogamie für die Evolution der Eusozialität freuen.
Woher kommt der Glaube an das Paranormale? [8]
Der Glaube an das Paranormale resultiert wahrscheinlich aus unreflektierten menschlichen Intuitionen. Annika Svedholm und Kollegen von der Universität of Helsinki haben 2000 Finnen nach ihren paranormalen Überzeugungen befragt und darauf haben sie das Ergebnis nach Zusammenhängen überprüft. Das Ergebnis: Wer an das Paranormale glaubt, der glaubt in der Regel gleich an das ganze Paket. Verschiedene paranormale Überzeugungen hängen eng zusammen und ergeben die „Kern-Wissens-Verwirrung“ (ein ernstgemeinter Fachbegriff des Forscherteams!). Hier ein paar Beispiele:
„Sterne leben im Himmel“ (Leblose natürliche Objekte sind lebendig)
„Ein Haus kennt seine Einwohner“ (Künstliche Objekte sind lebendig)
Da zahlreiche paranormale Überzeugungen stark miteinander korrelieren, sprechen die Forscher von einem „Allgemeinen Paranormalen Glauben“. Dieser führt zum Glauben an diverse paranormale Phänomene, sowie an höhere Absichten hinter Ereignissen. Im Prinzip heißt das nichts anderes, als dass Menschen, die an das Paranormale, sowie an finstere Mächte, die die Welt beherrschen (Fatalismus) glauben, sich auf ihre fehleranfälligen Intuitionen verlassen und nicht weiter über sie nachdenken oder sich über die tatsächliche Funktionsweise der Welt informieren. Die Forschung hat ganz schön lange gebraucht, um dieses Vorurteil von Skeptikern zu bestätigen.
Die Schattenseiten der Heimarbeit [9]
Nicht nur in kirchlichen Heimen leiden die Menschen: Das „Home Office“, der Arbeitsplatz zu Hause, hat eine Reihe schwerwiegender Schattenseiten: Die Leute arbeiten mehr und ohne Unterbrechung. Außerdem fühlen sich die Betroffenen isoliert und ihre sozialen Kontakte nehmen ab. Sie vermissen die Gespräche mit Kollegen, die Pausen und die unvorhersehbaren Unterbrechungen im Büroalltag. Die höhere Produktivität kommt den Heimarbeitern teuer zu stehen.
Viktorianische Frauen über Sex [10]
In der Zeit der sexuellen Verklemmtheit, im viktorianischen England, wurde eine Umfrage von der Forscherin Clelia Mosher über die sexuellen Vorlieben von Frauen durchgeführt. Die Umfrage wurde nicht veröffentlicht und erst in den 1980ern zufällig wieder entdeckt. Sie befasst sich mit weißen Frauen der gehobenen Mittelklasse. Von den 45 Befragten sagten 35 Frauen, dass es sie nach Sex verlange; 34, dass sie Orgasmen erlebt hatten; 24, dass das Vergnügen beider Geschlechter daran ein Grund für Sex sei; und drei Viertel hatten mindestens einmal in der Woche Sex.
Wohlhabendere Frauen benutzten Keuschheit im England des 19. Jahrhundert als ein Zeichen für ihre Respektabilität und als ein Zeichen, dass sie gute Bürgerinnen waren, was sie in der politischen Sphäre nicht ausdrücken konnten. Das Ideal der Leidenschaftslosigkeit diente aber auch der Unterdrückung weiblicher Sexualität, von der viktorianische Männer allerlei merkwürdige Auffassungen und eine ziemliche Furcht hatten.
Die harten Probleme der Anthropologie [11]
Für Neurophilosophen liegt das harte Problem in der Frage, wie das Bewusstsein entsteht. Anthropologen möchten nun ihr eigenes hartes Problem haben und arbeiten an einer Kandidatenliste. Der Anthropologe Karim Friedman hat folgenden Vorschlag:
„Was ist mit Kansas los?“
Im US-Bundesstaat Kansas sind aktuell rechte Politiker sehr beliebt, die in keiner Weise die Klasseninteressen der dortigen Farmer vertreten (vor 50 Jahren galt Kansas allerdings noch als die sozialistische Republik der USA!). Das anthropologische Problem lautet allgemein: Warum handeln Menschen entgegen ihrer Klasseninteressen? Die Neigung der Armen, ausgerechnet Vertreter des Großkapitals zu wählen, verblüfft also nicht nur Marxisten.
Gott ist stressig und beruhigend [12]
In einer neuen Studie wurden amerikanischen Studenten zehn Anagramme vorgelegt, von denen nur vier lösbar waren. Vor und nach der Studie wurde die Anspannung der Studenten gemessen. Außerdem gab es eine Vorübung: Sie mussten Wörter aus einem Wortsalat heraussuchen. In der Hälfte der Fälle waren Wörter mit Bezug zu Gott und Religion enthalten, in der anderen Hälfte nicht. Die Studenten, die mit religiösen Begriffen konfrontiert worden waren, benötigten mehr Zeit für die Lösung der Anagramme und sie waren danach angespannter. Das Ergebnis war unabhängig vom angegebenen Gottesglauben der Studenten.
Die Autoren der Studie vermuten, dass die Testpersonen der einen Gruppe das Gefühl hatten, Gott würde sie beobachten und dass sie darum einen höheren Druck verspürten, die Aufgaben zu meistern, auch wenn das überwiegend gar nicht möglich war. Andere Studien zeigen, dass der Gottesglaube normalerweise die Anspannung reduziert, aber das gilt offenbar nur so lange, bis sich Gläubige daran erinnern, dass sie von der Existenz eines unsichtbaren Diktators überzeugt sind, der ihre Gedanken lesen kann. Wie diese Studie nahelegt, werden auch nicht-religiöse Menschen durch den Gottesglauben, der in ihrer Kultur vorherrscht, beeinflusst.
Muskelpapst Werner Kieser leugnet Gott, Geist und Seele [13]
So lautet der Titel eines tendenziösen Interviews von Michael Meier für den Tagesanzeiger mit dem Krafttrainings-Giganten Werner Kieser. Immerhin spricht für Meier, dass ihn die katholischen Extremisten von kreuz.net nicht ausstehen können [14]. Trotzdem ist auch Meiers Interview nicht sehr ausgeglichen, so unterstellt er Materialisten, sie hätten keinen Humor („Materialisten scheinen dazu kaum fähig zu sein“) und er stellt herabwürdigende Fragen wie „Kann man an Ihren Maschinen auch Depressionen wegtrainieren?“.
Werner Kiesers Ansichten sind in gewisser Hinsicht schon „extrem“, wie es im Untertitel heißt. Dies ist aber nicht so wegen dem Materialismus, den er vertritt, sondern eher wegen dem Eliminativismus, einer radikalen Richtung des Physikalismus, der er anzuhängen scheint. Diesem zufolge sollte man die gesamte, angeblich falsche Alltagspsychologie mit ihren Begriffen wie „Gedanken“, „Gefühle“ und „Hoffnungen“ durch eine rein naturwissenschaftliche Beschreibung ersetzen. Im Gegensatz zum „normalen“ reduktionistischen Physikalismus (es ist möglich, alles auf Physik zu reduzieren) wird der eliminative Physikalismus (Phänomene der Alltagspsychologie haben kein physikalisches Äquivalent – sie existieren gar nicht) nur von einer kleinen Minderheit von Naturalisten vertreten. Eines der Probleme der Eliminativisten besteht darin, dass sie aufgrund ihrer Elimination unserer psychologischen Alltagsbegriffe kaum ausdrücken können, worum es ihnen eigentlich geht. Auf jeden Fall ist das Interview mit Kieser trotz allem sehr empfehlenswert.
Ku Klux Klan distanziert sich von Westboro Babtist Church [15]
Zum Abschluss eine Meldung aus Absurdistan (USA): Der Ku Klux Klan hat sich offiziell von der christlich-fundamentalistischen Großfamilie „Westboro Babtist Church“ distanziert (kein Scherz!), deren Mitglieder dafür bekannt sind, Schilder mit „Gott hasst Schwule“ und dergleichen Aufschriften mit sich herumzutragen. Der Wettbewerb zwischen christlichen Fundamentalisten und Rechtsradikalen um die Krone des Irrsinns, der in den USA stattfindet, hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht. 1:0 für die Fundis.
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-415-700.jpg
[2] http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,687697,00.html
[3] http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32312/1.html
[4] http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,684654,00.html
[5] http://www.theness.com/neurologicablog/?p=1832
[6] http://epiphenom.fieldofscience.com/2010/04/spite-is-flipside-of-brotherly-love.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:+BhaScienceGroup+%28Epiphenom%29
[7] http://starcourse.blogspot.com/2010/03/sacrifice-monogamy-and-altruism.html
[8] http://epiphenom.fieldofscience.com/2010/04/you-either-believe-in-it-all-or-you.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:+BhaScienceGroup+%28Epiphenom%29
[9] http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32377/1.html
[10] http://www.stanfordalumni.org/news/magazine/2010/marapr/features/mosher.html
[11] http://savageminds.org/2010/04/03/hard-problems-in-anthropology/
[12] http://epiphenom.fieldofscience.com/2010/03/god-prompts-can-scare-us-into-trying-to.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:+BhaScienceGroup+%28Epiphenom%29
[13] http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Muskelpapst-Werner-Kieser-leugnet-Gott-Geist-und-Seele/story/27800081
[14] http://www.kreuz.net/article.6918.html
[15] http://unreasonablefaith.com/2010/04/09/klan-distances-itself-from-phelps/