Presseschau | 22.01.2010
Es sei denn, es geht um unsere wöchentliche Presseschau, von der man gar nicht genug bekommen kann. Diesmal geht es um die Psychologie der Massen, um den Wert der Wissenschaft, um Gedankenlesen und um unser zwiespältiges Gerechtigkeitsempfinden. Außerdem erklärt Richard Dawkins, warum er nicht mit Kreationisten debattiert und er debattiert mit einer Kreationistin.
Wozu ist Wissenschaft gut? [2]
„Welchen Nutzen hat ein neugeborenes Kind?“, anwortete der Physiker Michael Faraday auf diese Frage. Die Tragik an der Sache ist, dass heute zwar ein so reichhaltiges Wissen zur Verfügung steht, wie es sich selbst Hochkulturen wie die alten Griechen und Römer nur hätten erträumen können, dass dieses Wissen zwar nur einen Klick entfernt und verständlich aufbereitet allen zur Verfügung steht, es die meisten Menschen aber kaum nutzen und sie genausogut im Mittelalter leben könnten. Die Hirnforscherin Susan Greenfield äußerte einmal den Wunsch, es müsse eines Tages so normal werden, abends in einen wissenschaftlichen Vortrag zu gehen, wie heute ins Kino oder ins Theater. Kai Kupferschmidt ruft dazu auf, dass wir uns moderne Erkenntnisse auch aneignen:
„In den vergangenen Jahrhunderten haben viele Forscher hart gearbeitet, um auch schier unerreichbare Früchte vom Baum des Wissens herunterzuholen. Dorthin, wo sie uns allen zur Verfügung stehen. Ihre Erkenntnisse sind jetzt da, für jeden nachzulesen, nur einen Klick entfernt, aufbereitet in verständlicher Sprache und verdaulichen Happen. Das Essen ist angerichtet. Aber solange wir nicht begreifen, dass dieses Gefühl im Magen Hunger ist, bleibt das Festmahl unangerührt – und wir verhungern am gedeckten Tisch!“
Eine neue Art von Wissenschaft [3]
In diesen Videos erklärt der britische Physiker Stephen Wolfram sein Konzept der zellulären Automaten [4]. Relativ simple Computerprogramme erzeugen komplexe Muster, darunter auch selbstreplizierende Moleküle (z.B. DNA). Mit „evolutionären Alghorithmen“ lässt sich die natürliche Evolution am PC nachvollziehen. Stephen Wolfram entwickelte außerdem die innovative Suchmaschine „Wolfram Alpha“, die wissenschaftliche Fragen beantwortet. Siehe zum Beispiel den Eintrag „Triceratops [5]“.
In einem Tierversuch wurde festgestellt, dass Affen größere von kleineren Mengen unterscheiden können. Ihre Gehirne konzentrierten sich bei dem Versuch ausschließlich auf die Rechenregel. Die Affen scheinen nicht sonderlich unter dem Versuch gelitten zu haben.
Ardipithecus ramidus, der vor 4,4 Millionen Jahren lebte, gilt als ältester bekannter Vorfahre des modernen Menschen. Man könnte ihn als Mosaikwesen zwischen Mensch und Schimpanse beschreiben. Im Gegensatz zu Schimpansen hangelte er sich nicht von Ast zu Ast, sondern er krabbelte auf allen Vieren auf seinen Handflächen durch die Bäume. Er konnte auch schon aufrecht stehen.
Ein Schritt in Richtung Gedankenlesen [8]
Mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanz-tomographie (Hirnscanner) ist es Forschern gelungen, neuronale Aktivitätsmuster bestimmten Wörtern zuzuordnen. Untersucht wurden sechzig Substantive, aber nur greifbare, zählbare und konkrete Objekte wie „Schloss“ oder „Hammer“. Das Gehirn unterscheidet die Wörter nach vier Kategorien, die bestimmten Hirnarealen zugeordnet werden können: Manipulierbarkeit (was man mit dem Objekt tut, z.B. drehen, schütteln), Essen (kann man es essen oder dient es zum Essen, etc.), Unterkunft (kann man sich darin verstecken oder erhält man damit Zugriff auf eine Unterkunft, etc.) und die Wortlänge, die einzige Kategorie, bei denen visuelle Eigenschaften des Objektes eine Rolle spielten. Wörter und Bilder werden also von unterschiedlichen Hirnarealen verarbeitet.
Am Ende konnten die Forscher mit 72%iger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, an welches der 60 Wörter die Versuchspersonen dachten. Mit einem Computerprogramm erstellten die Forscher außerdem eine Vorhersage, welche neuronalen Aktivitätsmuster man 58 neuen Wörtern zurechnen müsse. Zu 80,1% lag das Programm richtig.
Gut, der Psychologe Allan Guggenbühl ist nicht wirklich gegen Integration in der Schule, aber er macht darauf aufmerksam, dass die Zusammenlegung von Schülern mit unterschiedlichen Fähigkeiten auch Probleme mit sich bringt. Die Schwächeren fühlen sich minderwertig und verlieren die Motivation, weil sie gegen die Besten sowieso niemals ankommen werden. Deshalb sollte eine Schulklasse vielleicht eher Schüler mit vergleichbaren Talenten beherbergen. Aber das ist nur einer der Denkanstöße, die wir von Guggenbühl erhalten.
Die Haitianer haben bekommen, was sie verdienten [10]
Auch Theologen können einmal etwas Sinnvolles sagen (nein, nicht das, was in der Überschrift steht). In diesem Beitrag befasst sich Frank Ochmann mit den Tücken unseres Gerechtigkeitsempfindens: Wenn wir ein Unheil nicht durch unsere Taten wieder ausgleichen können, neigen wir dazu, den Charakter der Betroffenen in Frage zu stellen. So behauptete der evangelikale Prediger Pat Robertson, die Haitianer hätten einen Packt mit dem Teufel geschlossen und die Katastrophe über sich selbst gebracht. Es lohnt sich allemal, unseren Instinkten zu misstrauen. Auch schlimme Katastrophen wie die in Haiti haben keine andere Ursache als planloses Chaos und desinteressierte Naturgesetze, ob wir den Menschen dort helfen können oder nicht.
Geist und Gefühl Jugendlicher [11]
Bei US-amerikanischen Jugendlichen driften die geistige Entwicklung und die emotionale Entwicklung auseinander. Zwar können die Jugendlichen oft klug argumentieren, aber ihnen fehlt zu häufig die emotionale Reife, verantwortlich zu handeln. So die Ergebnisse einer neuen Studie von Psychologen der Temple-Universität in Philadelphia.
Gehirnerschütterungen sind ernst zu nehmen [12]
Die sogenannte „Gehirnerschütterung“ ist eigentlich eine „milde, traumatische Gehirnverletzung“, die schnell zu einer ernsthaften Gehirnverletzung werden kann, wenn Eltern ihre Kinder mit Gehirnerschütterung nicht ins Krankenhaus bringen. Offenbar nehmen viele Eltern die Gehirnverletzung allerdings nicht ernst, weil sie gemeinsprachlich „Erschütterung“ genannt wird. Übrigens sind Verletzungen am Gehirn etwas Schlechtes, egal, wie der Volksmund sie nennt.
Was wir begehren, scheint uns näher zu sein [13]
Eine neue Studie hat aufgezeigt, dass wir die Entfernung von Objekten, die wir haben wollen, optimistischer einschätzen: Sie scheinen uns räumlich näher zu sein als andere Objekte.
Ethisches Dilemma [14]
Diesmal wird es interaktiv: Lösen Sie auf feuerbringer.com ein ethisches Dilemma über ein Tabu-Thema. Die bisherigen Antworten sind sehr aufschlussreich. Ethische Dilemmata werden in der Psychologie unter anderem benutzt, um die evolutionär entstandene Basismoral des Menschen herauszufiltern, die „natürliche Moral“, wenn man so will.
Die Massen handeln idiotisch und dumm [15]
Nach allerlei Wertschätzungen der kollektiven Intelligenz gibt es wieder einen Beitrag, der sie pessimistischer beurteilt. „Die Menge ist schlecht“, wusste schon Goethe. Siehe das Fernsehprogramm und die Charts. Hier zwei weitere Redewendungen zum Thema: „Weniger ist oft mehr“ und „Viele Köche verderben den Brei“. Andererseits sind Volksweisheiten ebenfalls ein Massenphänomen...
Massen-Anstiftung zum Suizid [16]
Das Phänomen des „Suicide Baiting“ haben sich die deutschen Metaller namens „Rammstein“ in einem Lied [17] vorgenommen. Leider ist es aber keineswegs fiktiv oder auch nur selten (wenn man bedenkt, dass es prinzipiell selten vorkommt, dass eine Gruppe an Zuschauern einem potenziellen Selbstmörder gegenübersteht). Es handelt sich um die Anstiftung zum Suizid durch eine größere Menge an Zuschauern. Zum Beispiel, wenn sie einem potenziellen Selbstmörder von unten zurufen, dass er von der Brücke springen soll.
In einer Studie zum Thema wurde festgestellt, dass in der Hälfte der Fälle (!), wenn sich ein Mensch von einem Gebäude in den Tod stürzen will, ihn das unten stehende Publikum noch zusätzlich dazu anstiftet. Offenbar hängt das mit der Dichte und Wärme, also wohl mit dem Frustrationsgrad der Menge zusammen. Psychologen sprechen vom Prozess der „Deindividuation“, der Auflösung des Individuums in der Masse. Menschen neigen dazu, die Verantwortung für ihre Taten an die Gruppe abzugeben, in der sie agieren. Dies hat auch das berüchtigte „Standford Prison Experiment“ gezeigt, in denen Studenten in die Rollen von Gefängniswärtern und Häftlingen gesteckt wurden. Innerhalb von Tagen eskalierte das Experiment, weil die „Wärter“ die Häftlinge quälten. Dieses Phänomen spielte auch im Nazi-Regime eine große Rolle. Individuelle Nazis haben die Verantwortung für ihre Verbrechen auf ihren Vorgesetzten oder die Gruppe übertragen. Masse führt offenbar leicht zur Entmenschlichung.
Zumindest ist es das Ende der Debatte über die Willensfreiheit zwischen dem Philosophen Michael Schmidt-Salomon und Andreas Müller. Im dritten Teil seiner Replik erklärt MSS, warum ich ein Zombie, ein Behaviorist, ein Android ohne Emotions-Chip und der Vulkanier „Spock“ aus Star Trek bin. Außerdem verteidigt er ein Konzept, das er „Makrodetermination“ nennt und laut dem Kultur und Biologie eine kausale Wirkung auf die unteren Ebenen (Chemie, Physik) ausüben. Die Debatte haben wir im hpd-Forum [19] fortgesetzt. Darin erkläre ich, warum ich keine Zombie-Psychologie vertrete, den Behaviorismus ablehne, sehr wohl über Emotionen verfüge, Makrodetermination bezweifle und ein Humanoid vom Planeten Erde bin. Und jetzt haben wir beide keine Lust mehr.
Warum Richard Dawkins nicht mit Kreationisten debattiert [20]
Das erklärt er in diesem kleinen Vortrag selbst. „Würde ein Geologe mit einem Flache-Erde-Theoretiker debattieren?“
Richard Dawkins debattiert mit einer Kreationistin [21]
Ja, das passt nicht so recht zum letzten Beitrag. Allerdings ist es keine richtige Debatte vor einem Publikum, sondern es handelt sich um das ungekürzte Interview von Dawkins mit Wendy Wright, die einer rechtskonvervativen Organisation namens „Concerned Women for America“ vorsteht. Das gekürzte Interview ist Teil von Dawkins Fernsehdokumentation „Die Genialität von Charles Darwin [22]“. Allerdings ist ganze Gespräch sehr aufschlussreich und entführt uns uns tief in die Psyche von Fundamentalisten.
50 Stimmen des Unglaubens [23]
Der Biophilosoph Edgar Dahl erklärt in diesem Beitrag, warum man Atheisten nicht für die Verbrechen von Stalin, Mao und co. verantwortlich machen kann. Abgesehen von ihrem Unglauben gibt es keine notwendigen Übereinstimmungen zwischen Atheisten. Manche wählen sogar die CSU.
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-380-644.jpg
[2] http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonderthemen-Wissenschaftsjahr;art893,3007854
[3] http://transhumanismus.wordpress.com/2009/11/07/a-new-kind-of-science-stephen-wolfram/
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Zellul%C3%A4rer_Automat
[5] http://www.wolframalpha.com/input/?i=triceratops
[6] http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/2217225_Affen-koennen-Mengenlehre.html
[7] http://www.scinexx.de/dossier-detail-479-5.html
[8] http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31893/1.html
[9] http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Schule-koennte-Funktion-verlieren/story/17672666
[10] http://www.stern.de/wissen/mensch/kopfwelten-haiti-und-die-gefaehrliche-frage-nach-dem-warum-1536904.html
[11] http://www.welt.de/die-welt/wissen/article5926531/Geist-und-Gefuehl-Jugendlicher.html
[12] http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/309355.html
[13] http://www.heise.de/tp/blogs/3/146913
[14] http://feuerbringer.com/2010/01/19/ethisches-dilemma/
[15] http://www.heise.de/tp/blogs/6/146923
[16] http://brucemhood.wordpress.com/2010/01/19/suicide-baiting/
[17] http://www.youtube.com/watch?v=sck-_g0bk1Q
[18] http://hpd.de/node/8638
[19] http://forum.hpd.de/viewtopic.php?t=40
[20] http://www.youtube.com/watch?v=BhmsDGanyes
[21] http://www.youtube.com/watch?v=US8f1w1cYvs
[22] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../../evo-magazin/genialitaet-charles-darwin
[23] http://www.wissenslogs.de/wblogs/blog/libertarian/allgemein/2010-01-21/die-vier-apokalyptischen-reiter