Evolution | 10.12.2008
Selektion? Gradualismus? Durch den Dschungel der Fachbegriffe führt Prof. Wuketits mit seinen Begriffserklärungen für Einsteiger.
Evolution
Artenwandel; die Veränderung der Arten und ganzer Organismengruppen (Gattungen, Familien usw.) im Laufe mehr oder weniger langer Zeiträume. Evolution ist heute eine durch unzählige empirische Forschungsergebnisse aus allen Gebieten der Biologie und ihrer Randdisziplinen erhärtete Tatsache.
Der Ausdruck Evolution wird auch außerhalb der Biologie gebraucht, man spricht etwa von kosmischer oder kultureller Evolution. Darunter wird im allgemeinen nichts weiter als Entwicklung, Veränderung verstanden, was nichts über deren spezifische Abläufe und Mechanismen aussagt. Die hier vorgestellten Begriffe beziehen sich ausschließlich auf die organische Evolution.
Evolutionsbiologie
Fächerübergreifende biologische Disziplin, die sich auf empirischer Basis mit allen Aspekten der → Evolution beschäftigt. Die Evolutionsbiologie befasst sich sowohl mit den „Großabläufen“ der Evolution und den dabei wirksamen Mechanismen als auch im einzelnen mit Veränderungsprozessen innerhalb einer Art und den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Arten einer bestimmten Verwandtschaftsgruppe. Die dabei noch nicht befriedigend beantworteten Fragen im Detail ändern nichts an der Tatsache der Evolution selbst.
Evolutionsphilosophie
Gesamtheit aller – keineswegs einheitlich und einhellig betriebener – Bestrebungen, philosophische Probleme auf evolutionstheoretischer Grundlage zu lösen. So bedeutet etwa die evolutionäre Erkenntnistheorie die evolutionstheoretische Beschreibung, Rekonstruktion und Erklärung menschlichen Erkennens und Denkens; unter anderem mit dem Resultat, dass unsere Erkenntnisleistungen primär eine Anpassung an diejenigen Strukturen und Funktionen der realen Welt darstellen, auf die Bezug zu nehmen lebenserhaltende Bedeutung hatte (was einige Schlüsse auf die Tragweite und die Grenzen unserer Erkenntniskapazität zulässt). Umgekehrt bedeutet Evolutionsphilosophie auch die Klärung philosophischer (vor allem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer) Voraussetzungen der Evolutionstheorie selbst.
Evolutionstheorie
Theorie der Abläufe und Mechanismen der Evolution. Die Evolutionstheorie erschöpft sich also keineswegs im Nachweis der Evolution selbst, die heute als Tatsache vorauszusetzen ist (siehe oben), sondern hat – dem Charakter einer wissenschaftlichen Theorie entsprechend – vor allem die Aufgabe, den Artenwandel (kausal) zu erklären. Sie beantwortet vor allem zwei Fragen bzw. Fragenkomplexe.
1. Wie verläuft Evolution? (Ablauffrage) Diese Frage zerfällt in drei Teilprobleme:
(a) Gibt es Gesetzmäßigkeiten der Evolution?
(b) Verläuft die Evolution langsam, kontinuierlich (→ Gradualismus) oder sprunghaft
(→ Punktualismus, Saltationismus)?
(c) Wie stellen sich die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Organismenarten und ganzen Organismengruppen dar?
2. Was sind die Mechanismen, die „Motoren“ der Evolution, wodurch also kommt Evolution überhaupt zustande? (Ursachenfrage).
Die Evolutionstheorie ist die umfassendste Theorie der Biowissenschaften, sie hält gleichsam wie eine große Klammer alle Einzelphänomene im Bereich des Lebenden zusammen, vereint alle biologischen Disziplinen, so wie sie sich umgekehrt auf ihre Ergebnisse stützt. Historisch gesehen hat sie wesentlich zur Biologie als Gesamtwissenschaft vom Leben beigetragen und Zoologie und Botanik, die lange Zeit getrennt voneinander betrieben wurden, sozusagen zusammengebracht. Zur Evolutionstheorie gibt es in der Biologie keine ernst zu nehmende Alternative.
Fossilien
Reste ausgestorbener Lebewesen, keineswegs allein Versteinerungen. Fossilien sind z. B. auch Kriech- und Fraßspuren oder in Bernstein eingeschlossene Insekten. Fossilien waren zwar seit dem Altertum bekannt, ihre richtige Interpretation konnte allerdings erst im Rahmen der → Evolutionstheorie erfolgen. Als empirischen Belegen für die → Evolution kommt ihnen historisch gesehen somit erst sekundär ihre Bedeutung zu.
Genetische Rekombination
Wichtigste Quelle individueller Variation innerhalb einer Art. Im Prozess der sexuellen Fortpflanzung werden die elterlichen genetischen Potenzen nicht einfach addiert, sondern – nach dem Prinzip eines Zufallsgenerators – neu durchmischt. Damit entsteht genetische Vielfalt, das „Rohmaterial“, an dem die Selektion als die Evolution „antreibende“ Kraft ansetzen kann. Die genetische Rekombination erklärt die Einmaligkeit des Individuums, ein für Darwins → Selektionstheorie grundlegender Ausgangspunkt.
Gradualismus
Von Darwin, Lamarck (→ Lamarckismus) und vielen späteren Evolutionstheoretikern vertretene Auffassung, wonach sich Evolution langsam, kontinuierlich, in unzähligen kleinen Schritten abspielt. Dahinter steht auch die alte (natur-)philosophische Überzeugung, dass die Natur keine Sprünge macht (natura non facit saltus).
Historische Rekonstruktion
Zwar ist Evolution „im Kleinen“ durchaus auch empirisch, experimentell prüfbar (Mutationsexperimente, Haustier- bzw. Kulturpflanzenzucht usw.), aber die „großen“, in der Vergangenheit liegenden Wandlungsprozesse lassen sich nur rekonstruieren. Die Entwicklung fischartiger Lebewesen zu Amphibien, das Aussterben der Saurier oder die Evolution der Primaten sind nicht experimentell prüfbar. Jedoch ist die – auf unzähligen empirischen Details beruhende – historische Rekonstruktion nicht weniger „wert“ als das Experiment in der Physik oder Chemie. Evolutionsbiologen und –theoretiker befinden sich dabei in einer ähnlichen Situation wie Archäologen oder Geschichtswissenschaftler, nur das ihnen zur Verfügung stehende Material ist ein anderes (statt Hieroglyphen, Bauwerken usw. greifen sie auf Fossilien, den Vergleich rezenter Organismen miteinander, DNA-Sequenzen etc. zurück.
Lamarckismus
In Darwins Geburtsjahr (1809) stellte der französische Naturforscher Jean Baptiste de Lamarck (1744-1829) in seinem Werk Philosophie zoologique (Zoologische Philosophie) eine Theorie des evolutiven Artenwandels vor und darf daher als erster Evolutionstheoretiker gelten. Mit Lamarckismus bezeichnet man die Auffassung, dass individuell erworbene Eigenschaften vererbt werden und es so fortgesetzt zu Anpassungen – in der Folge also zu einer Veränderung der Arten – kommt.
Mutation
Änderungen im Erbgefüge eines Organismus. Mutationen wurden (und werden) in ihrer Bedeutung für die Evolution oft überschätzt, obwohl unbestritten ist, dass bestimmte Mutationen ihren Trägern gegenüber anderen Individuen ohne die betreffende Mutation Vorteile verschaffen können.
Neodarwinismus
Erweiterung der → Selektionstheorie Darwins, vor allem durch die Arbeiten des deutschen Zoologen August Weismann (1834-1914). Weismann erweiterte Darwins Theorie insbesondere um zellbiologische und genetische Aspekte.
Paläobiologie
Disziplin im Schnittbereich zwischen Biologie und Geologie. Die Paläobiologie rekonstruiert nicht nur das „Aussehen“ ausgestorbener Lebewesen, sondern auch deren Lebensweise in Wechselwirkung mit ihren jeweiligen Lebensräumen.
Population
Gesamtheit der Individuen einer Art in einem bestimmten (geographischen) Raum, die über mehrere Generationen genetisch miteinander verbunden bleiben. Das eingehende Studium der Populationen, ihrer jeweiligen Größe und deren Schwankungen hat zu wichtigen Einsichten in die grundsätzlichen Evolutionsprozesse geführt und war maßgeblich bei der Begründung der → Synthetischen Theorie.
Phylogenese
Stammesgeschichte. Nicht identisch mit dem – umfassenderen – Begriff → Evolution. Phylogenese beschreibt die Aufspaltung von Arten und die „Auseinanderentwicklung“ von ganzen Organismengruppen, z. B. die Entwicklung der Säugetiere und Vögel aus Reptilien.
Üblicherweise werden solche Entwicklungsprozesse als Stammbäume dargestellt.
Punktualismus
Auffassung, wonach in der Evolution lange Phasen der Stagnation immer wieder durch Evolutionsschübe („unterbrochene Gleichgewichte“) mit relativ rascher Entstehung und Veränderung von Arten abgelöst werden. Die Kontroverse um → Gradualismus und Punktualismus ist heute weitgehend beendet. Evolution spielt sich, nicht zuletzt aufgrund ökologischer Faktoren, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab, mal langsam, mal schnell. „Echt“ sprunghafte Evolution, bei der etwa Spinnen über Nacht zu drei Meter große Monstern mutieren, gehört allerdings in den Bereich der Sciencefiction. (→ Saltationismus.)
Saltationismus
Auffassung, wonach die Evolution Sprünge macht. Vor allem für die Entstehung jeweils neuer „Baupläne“ (z. B. Insekten, Wirbeltiere usw.) wurden immer wieder „Typensprünge“ angenommen. Diese Annahme erweist sich heute als nicht mehr vonnöten, zumal das Problem unterschiedlicher Evolutionsgeschwindigkeiten im wesentlichen geklärt ist. Relativ lange oder relativ schnelle Evolution stehen nicht im Widerspruch zur → Selektionstheorie.
Selektionstheorie
Ursprünglich Darwins Theorie der Veränderung der Arten durch Selektion oder natürliche Auslese. Aus der Fülle individueller Varianten einer Art bevorzugt die Selektion diejenigen, die, bildhaft gesprochen, am besten ins Bühnenbild der Evolution passen und eliminiert andere. Die Selektionstheorie hat seit Darwin mehrmals wichtige Ergänzungen und Erweiterungen erfahren (→ Neodarwinismus, Synthetische Theorie). Heute setzt sich auf breiter Front die (schon von Darwin anvisierte) Idee durch, dass Selektion nicht nur von Seiten der Außenwelt auf Lebewesen einwirkt, sondern auch als innere Selektion zur Wirkung kommt. Darunter versteht man die Gesamtheit der Konstruktions- und Funktionsbedingungen der Lebewesen, die deren eigene Entwicklungsmöglichkeiten einschränken. Pointiert gesagt: Bei ihren jeweiligen Veränderungen haben die Organismen selbst ein Wörtchen mitzureden.
Sexuelle Selektion
Geschlechtliche Zuchtwahl. Eine Form der natürlichen Auslese, auf die bereits Darwin verwiesen hat. Dabei handelt es sich um die Förderung von Signalstrukturen im Dienste der Partnerfindung. Solche Strukturen äußern sich etwa in "Prachtkleidern" (bei Paradiesvögeln). Ein eindrucksvolles Beispiel sind auch die zu einem "Rad" formbaren Schwanzfedern beim Pfau.
Sozialdarwinismus
Ideologische Fehldeutung der → Selektionstheorie Darwins im normativen Sinn. Der Sozialdarwinismus interpretiert Darwins Theorie als „Recht des Stärkeren“. Dabei wird Darwin sozusagen auf den Kopf gestellt. Er verstand seine Theorie als naturwissenschaftliche Theorie des Artenwandels und hat nie behauptet, dass die natürliche Auslese als Vorbild bei der Gestaltung menschlicher Gesellschaften dienen könne.
Soziobiologie
Studium des Sozialverhaltens der Lebewesen (einschließlich des
Menschen) auf evolutionsbiologischer und genetischer Grundlage.
Aus der Sicht der Soziobiologie ist soziales Verhalten, auch
in seinen komplexen Formen des Moralverhaltens, ein Ergebnis
der Evolution durch natürliche Auslese. Im Gegensatz zur
klassischen Verhaltensforschung geht die Soziobiologie davon
aus, daß das (soziale) Verhalten nicht dem Artwohl, sondern
dem Individuum und seiner erfolgreichen Fortfplanzung dient.
Daher kann sie auch das Töten von Artgenossen (vor allem
Kindestötung) plausibel erklären.
Synthetische Theorie
„Moderne Synthese“. Nach dem → Neodarwinismus erneute Erweiterung der Theorie Darwins in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren. Die Synthetische Theorie war eine Synthese aller damals relevanten biologischen Disziplinen, vor allem eine Erweiterung der → Evolutionstheorie um Aspekte der Populationsbiologie bzw. Populationsgenetik.
Teleologie
Universelle Zweckmäßigkeit, „Weltenzweck“. Auf die antike Philosophie zurückgehende Annahme, dass dem ganzen Weltgeschehen ein übergeordneter Zweck, eine Absicht zugrunde liegt. Aus evolutionstheoretischer Sicht erweist sich diese Annahme als obsolet. Die wohl wichtigste Konsequenz der → Selektionstheorie Darwins bleibt die Verabschiedung der Teleologie zugunsten einer Theorie, die nur unmittelbar zweckmäßige Anpassungen kennt und die Annahme eines „Weltarchitekten“ entbehrlich macht.
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-37-27.jpg