
Gastbeitrag | 17.12.2009
Der Biologe Andreas Kilian verbindet in seinem Buch "Egoismus, Macht und Strategien" Erkenntnisse der Soziobiologie mit linker Gesellschaftskritik. In diesem Gastbeitrag tut er dies ebenfalls in Hinblick auf die Weltwirtschaftskrise. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Kilian sagt. Aber es ist eine unorthodoxe Sichtweise.
Der Zufall wollte es, dass das Darwin-Jahr und die Weltwirtschaftskrise zusammenfielen. Aber was haben sie miteinander zu tun?
Gewinner und Verlierer, Superreiche und Hungertote zeigen einmal mehr, dass wir immer noch in den Mechanismen der Evolution gefangen sind. Wir führen unsere innerartliche Selektion nur mit anderen, mit “kulturellen”, Mitteln fort. Nein, niemand möchte für den Tod anderer verantwortlich sein. Aber Tote sind das, was dabei herauskommt, während es einigen Wenigen besser geht. Es gibt nicht nur Verhungerte in der Dritten Welt, sondern auch erfrorene Obdachlose in unserer Hartz-IV-Welt. Die Weltwirtschaftskatastrophe bietet daher eine Gelegenheit, über menschliches Verhalten, evolutionäre Strategien sowie unsere arteigenen Selektionsmechanismen nachzudenken.
Machen wir einen hypothetischen Ausflug in die menschliche Vergangenheit und sehen uns die treibende Kraft und die Hauptursache unseres Wirtschaftssystems an: Das Privateigentum! Ein Tier, welches sich ein Nest baut, nimmt sich Material zum Bau und lässt es zurück, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. Es haftet nicht an materiellen Dingen. Nur in der kurzen Zeit der Balz und des Brütens wird der vermeintliche Besitz erobert und verteidigt. Ist der Rausch der Hormone verflogen, so hört auch das “Besitzverhalten” auf. Das Gefühl von “Privateigentum” ist auch beim Menschen nur ein Trick unserer Psyche, damit wir zweckdienliche Gegenstände effektiver mit Klauen und Zähnen in Besitz nehmen und verteidigen. Es ist selbstredend, dass es in den Kreisläufen der Natur kein Privateigentum gibt. Durchgesetzt haben sich bei unseren Ahnen im Laufe der Evolution jene, die aggressiver und besitzergreifender waren. Sie bezeichneten die gewaltsame Aneignung als Privatisierung.
Und diese Aneignung trägt heute zum Teil merkwürdige Blüten. So besitzen die fünf reichsten Menschen der Erde genausoviel Geld, wie etwa vierzig Prozent der ärmeren Weltbevölkerung. Die einhundert reichsten Menschen verfügen zusammen über mehr als die Hälfte aller Geldmittel dieser Welt. Allein die englische Königin besitzt ein sechstel der Erdoberfläche als Grundbesitz. Alles zusammen pathologische Anhäufungen, die ein Mensch alleine nie verbrauchen kann und die an anderer Stelle sinnvoller zu verwenden wären, wenn sie wieder in den Kreislauf zurückfließen könnten. Stattdessen leiden im Darwin-Jahr 2009 zirka eine Milliarde Menschen Hunger bzw. sind direkt vom Hungertod bedroht: Also jeder sechste Mensch. Mit jedem Atemzug, den wir machen, sterben zwei Kinder an Unterernährung. Nicht, weil es keine Nahrung gibt, sondern weil unsere archaische Psyche uns nicht teilen lässt.
Der Trick der Psyche wurde wahrscheinlich in den Eiszeiten zu einem Überlebensvorteil. Unsere Ahnen mussten nicht nur in der Lage sein, ihre Territorien gegen andere Gruppen zu verteidigen, sondern auch in Notzeiten ihre schwächsten Mitglieder opfern, um das Überleben der enger verwandten Gruppenmitglieder zu sichern. Wer nicht mehr mit allen anderen teilte, hatte kleine aber feine Vorteile, wenn es hart auf hart kam. Die innerartliche Konkurrenz selektierte unser Sozialverhalten auf das Spektrum zwischen sozial bis unsozial, je nach Gelegenheit.
Mit der Ausbreitung des Denkens in “Privateigentum” erschienen nun auch Alphatiere, die davon überzeugt waren, dass ihnen das Revier allein gehörte. Eine gehörige Portion Adrenalin half ihnen dabei, diese Überzeugung mit Gewalt durchzusetzen. Wer sich in “ihrem” Revier aufhalten oder gar fortpflanzen wollte, der musste sich das Recht dazu durch Gegenleistungen erkaufen. Zur Diskussion standen Ordnungshüteraufgaben, Hilfe bei der Verteidigung und Nahrungsbeschaffung sowie Paarungsbereitschaft. Die eigenen Geschwister und Halbgeschwister wurden mit der Gewalt des Stärkeren dazu gezwungen, etwas für den Chef und die Gruppe zu tun. Da aber das Gras und die Früchte von alleine wachsen und das Wasser von alleine fließt, gibt es niemals genug zu tun, um die Psyche eines Chefcharakters zufrieden zu stellen. Wer von den Geschwistern einen Teil des Gebietes zur eigenen Fortpflanzung nutzen wollte, der musste mehr tun als die anderen. Es entstanden Hierarchien darin, wer etwas Nützliches tat oder tun durfte. Nur Nichtstun und gegen die Ordnung des Privatbesitzes zu verstoßen, führten zum Ausschluss und zur Vertreibung aus dem Revier. Und dies alles, weil das Adrenalin das Alphatier in den Glauben versetzte, es würde etwas für die Gruppe tun, wofür es eine Gegenleistung verlangen könnte.
Diese Aufteilung in Besitz und das Verständnis, dass man etwas dafür tun muss, ist uns heute so selbstverständlich, dass wir unser Wirtschafts- und Verteilungssystem nicht mehr hinterfragen. In der Evolution baut aber jedes Verhalten, so komplex es auch erscheinen mag, immer auf dem auf, was bereits vorlag. Unser Wirtschaftssystem zeigt daher starke Analogien zu unserem Gruppenverhalten in der Steinzeit. Auch Meme müssen auf fruchtbaren Boden fallen, um sich durchzusetzen. (1)
Betrachten wir als Beispiel unser Geldsystem. (2) Eine Bank lässt Geld drucken und gibt es als Tauschmittel aus. Sagen wir als Beispiel zehnmal je 100 Taler. Am Ende eines Zeitraumes wollen sie die 100 Taler zurückhaben plus eine Menge von jeweils 10 Talern Zinsen. Der Trick besteht nun darin, dass die Geldmenge für die Zinsen niemals gedruckt worden ist.
Alle Menschen, die sich Geld geliehen haben, müssen sich nun bemühen, die Menge von 10 Talern einzutreiben, die gar nicht existiert. Die einzige Möglichkeit, am Ende des Zeitraumes die Schulden zu begleichen, besteht darin, das Geld für die Zinsen von den anderen Kreditnehmern zu bekommen. Es entsteht ein Wettbewerb, bei dem am Ende einige Wenige den geliehenen Betrag plus die Zinsen zurückzahlen können, während andere nicht einmal den geliehenen Betrag zurückzahlen können. In unserem Beispiel könnten fünf Personen 550 Taler zurückzahlen, während die anderen logischerweise nur noch 450 Taler haben könnten. Die Verlierer müssen sich mit ihrem Besitz und ihrer Arbeitskraft noch weiter verschulden, um weiterhin am Leben teilnehmen zu können. Gewinnen tun die Personen, die durch überhöhte Preise in der Lage sind, die Zinslast pünktlich einzutreiben und den Machthabern zurückzuzahlen. Draufzahlen tun diejenigen, die erst bei den Preisen übers Ohr gehauen wurden, daher ihre Schulden nicht bezahlen konnten und anschließend ihre Arbeitskraft verpfänden müssen, um das zu bezahlen, was ihnen vorher mit List gestohlen wurde.
Sie werden jetzt sagen, dass Sie nie in ihrem Leben einen Kredit aufgenommen haben! Irrtum, die Händler haben Kredite aufgenommen, die Sie ihnen beim Einkaufen durch überhöhte Preise zurückzahlen dürfen. Denken sie auch an ihre Miete oder an die Grundsteuern. Sie müssen an dem Schuldsystem teilnehmen, damit sie ihren Kopf dort zum Schlafen hinlegen dürfen. Und warum müssen sie für diese natürlichen Grundrechte eines Erdenbürgers bezahlen? Weil “Man” sie sonst bestraft.
Aber die Banken tragen doch auch ein Risiko, welches berücksichtigt werden muss? Banken vergeben Kredite nur gegen Sicherheiten. Dies ist meistens Grundbesitz! Womit sich der Kreis schließt. Wer nicht effizient für sie arbeitet und Zinsen eintreibt, verliert Grund und Boden. Und wer keinen Boden hat, muss andere dafür bezahlen, dass er auf deren Land leben darf. So häuft sich aller Grundbesitz langsam, aber sicher, bei einigen Wenigen an.
Und warum brechen unsere Wirtschaftssysteme seit Jahrtausenden immer wieder regelmäßig in sich zusammen? Warum verlieren Millionen Menschen Hab und Gut? Warum müssen immer wieder neue Währungen und Banksysteme geschaffen werden? Wenn wir uns noch einmal unsere steinzeitliche Gruppe in ihrem Privatrevier ansehen, so fällt zunächst auf, dass eigentlich gar nichts verloren geht. Das Revier ist immer noch vorhanden. Die Früchte wachsen und das Wasser fließt von alleine. Niemand müsste Hunger leiden. Alles, was sich verändern kann, sind die Versprechungen und Machtverhältnisse der Gruppenmitglieder untereinander. Hier wird abgewogen, wer wem helfen sollte, um in Zukunft Gegenleistungen verlangen zu können. Hier werden Koalitionen geschmiedet und Versprechungen gegeben, um an die Macht und die Fortpflanzung zu gelangen. In einer Gruppe, in der die Mitglieder mit und gegeneinander leben, geht es um Wahrscheinlichkeiten, Spekulationen und Vertrauen. Es geht um die Gratwanderung jedes einzelnen, wann er die Gruppe braucht und daher sozial sein sollte, und wann er sich gegen Einzelne wenden sollte, um seinen Vorteil zu maximieren. Und in (vermeintlichen) Notzeiten sollten einige Mitglieder geopfert werden können, um die Ressourcen für die “Gewinner” freizumachen.
Und genau dies ist unser Wirtschaftssystem. Wer benutzt wen, um nach oben zu kommen? Wer zieht seine Energien ab, um auf jemand anderen zu setzen? Und alles geschieht unter der Maxime der Steinzeit, dass es wenige Gewinner in der Gruppe geben darf, sowie einige Verlierer, die als Statisten und Arbeitskräfte für die anderen geopfert werden können.
Eine Weltwirtschaftskrise ist daher nichts anderes als das Schaffen neuer Machtverhältnisse, damit die verschuldeten Teilnehmer ihre Arbeitskräfte unter neuen Hoffnungen und Versprechungen wieder zur Verfügung stellen müssen. Den Gewinn schöpfen diejenigen ab, die in die richtige Machtkoalition investiert haben und die anderen zur Kasse bitten. Und wer bezahlt die Weltwirtschaftskrise im Darwin-Jahr....? Richtig: Sie! Im Prinzip nimmt sich ein Aktionär oder Banker ihr Gespartes als Gewinn, Boni oder Gehalt und schließt die Lücke dadurch, dass er den Politikern empfiehlt, das entstandene Loch durch das Verschulden ihrer Arbeitskraft, sprich Steuern, wieder zu stopfen.
Solange wir die Illusionen unser Psyche nicht als das entlarven, was sie sind, geht die Evolution für uns weiter. Wir alle opfern Menschenleben, weil wir am Gewinn teilhaben und andere für uns arbeiten lassen wollen. Wir selber sind damit der Selektionsfaktor für die weitere Entwicklung des Menschen. Wir selektieren durch Gewinn, Krieg, Wirtschaftsembargos und Hartz-IV, welche Charaktere sich in Zukunft auf der Erde aufhalten werden, und welche Charaktere aussterben müssen. Wir selektieren die Psyche und das Verhalten des zukünftigen Menschen. Es liegt folglich an uns, welche Hölle wir für unsere Kinder schaffen wollen. Wollen wir wirklich an der Evolution festhalten und weiterhin unreflektiert daran teilnehmen? (3)
Andreas Kilian
Anmerkungen
[2](1) Blackmoore, Susan: Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist. München: Elsvier, Spektrum, Akad. Verlag 2005.
(2) Bock, Max von: Scheibenweise. Wie funktioniert Geld? 10 Punkte Plan zur effizienten Ausbeutung eines Planeten. Diplomarbeit 2005. Fachhochschule Aachen, Fachbereich Design.
(3) Kilian, Andreas: Egoismus, Macht und Strategien. Soziobiologie im Alltag. Alibri 2009.
Das Buch gibt es im Denkladen [2].
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-361-610.jpg
[2] http://www.denkladen.de/product_info.php/info/p1312