Interview | 21.04.2009
Das Tauchermagazin DIVEMASTER [2] führte kürzlich ein Interview mit Helmut Debelius, Unterwasserfotograf, Autor, Verleger und Mitglied im Darwin-Jahr-Komitee, in dem man viel über die Grundlagen der Evolutionstheorie erfährt. Nach Helmut Debelius wurde eine neue Seepferdchenart benannt, die er selbst entdeckte. Das Interview findet man nun auch hier auf darwin-jahr.de:
DIVEMASTER: Wie muss man sich die Zusammenhänge von Evolution und Artenbildung vorstellen?
Helmut Debelius: In jeder neuen Generation von Organismen einer Art treten eine ganze Reihe von leicht unterschiedlichen Varianten auf, die im Hinblick auf sich ändernde Lebensbedingungen von Vorteil sein können. Die erfolgreichsten Individuen haben wiederum die größte Chance, die Ahnenreihe fortzusetzen. Im Laufe der Zeit können sich verschiedene Populationen unterschiedlich entwickeln und zu neuen Arten werden. Arten, die aufgrund ihrer Eigenschaften weniger gut unter sich verändernden Umweltbedingungen leben können, sterben aus. Artensterben können jedoch auch durch Naturkatastrophen verursacht werden, die Lebensräume vernichten oder ihren Tribut von denen fordern, die zu spezialisiert sind. Arten können so erfolgreich werden, dass sie andere dadurch verdrängen. Eine einzige Korallenart kann ein ganzes Riff bedekken, wenn sie nicht regelmäßig von Stürmen in Grenzen gehalten wird.
Die menschliche Rasse dominiert derzeit den ganzen Planeten und verschlingt Lebensräume geradezu, was als Folge zahllose Arten aussterben lässt. Verwandte Arten haben einen gemeinsamen Vorfahren. Schaut man noch weiter zurück, haben sich diese Vorfahren aus noch früheren entwickelt. Oft wird zur Darstellung der Verwandtschaftsverhältnisse das Bild eines Baumes benutzt, der einen einfachen Stamm und einige dicke Äste besitzt, die sich immer weiter verzweigen. Dieses Bild ist jedoch etwas irreführend, da es den Eindruck erweckt, dass die Evolution zielgerichtet fortschreitet. Außerdem entsteht der falsche Eindruck, dass die Dicke der einzelnen Äste der Anzahl der an diesem Punkt vorhandenen Arten entspräche. Ein realistisch gezeichneter „Stammbaum“ hätte wegen seines Ungleichgewichtes keine Chance, stehen zu bleiben. Evolution ist ein kontinuierlicher Prozess, und es ist manchmal unmöglich, die Grenze festzulegen, von der an eine leicht abweichende Population als eigene Art bezeichnet werden sollte.
Weit verbreitete Arten können in semi-isolierten Populationen vorkommen, in denen der Prozess der Artenbildung gerade stattfindet. Sehr schwierig ist es, den Status von Arten zu bestimmen, die viele Populationen umfassen, die sich vom jeweiligen Nachbarn kaum, vom entferntesten Nachbarn aber deutlich unterscheiden. Ohne diese zwischen den entfernten Nachbarn liegenden Populationen gäbe es keine Diskussion: Man würde die sich deutlich unterscheidenden Populationen als eigene Arten betrachten. So herrscht auch unter Fachleuten oft Uneinigkeit darüber, wo die Grenze zu ziehen ist.
Artenbildung findet oft statt, wenn Populationen durch geologische Prozesse geteilt werden, so dass sie sich nun völlig unabhängig voneinander entwickeln können. In anderen Fällen kann ein Teil der Population durch Wanderung den günstigsten Umweltbedingungen folgen. Solche Arten weichen nur wenig von ihrer Ausgangsform ab, während die zurückgebliebenen einen Anpassungsprozess durchlaufen und sich von der ursprünglichen Form deutlich unterscheiden. So können Artenkomplexe entstehen, in denen sich die ähnlichsten Arten an den äußeren Punkten ihres Verbreitungsgebietes befinden. Im Indo- Westpazifik findet man daher einander sehr ähnliche Arten bei Ostaustralien, Südost-Japan und
Ostafrika.
Isolierte Populationen entwickeln sich unabhängig voneinander. Erst vor relativ kurzer Zeit voneinander getrennte Populationen können sich in ihrem Aussehen bereits ein wenig voneinander unterscheiden. Ihre Mitglieder pflanzen sich aber miteinander fort, wenn sie wieder aufeinander treffen. Solche Formen werden meist als Unterarten oder geographische Varianten bezeichnet. Oft betrachtet man isolierte Populationen als Arten, wenn sie keine fruchtbaren Nachkommen mehr miteinander zeugen können. Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht. Es kann durchaus Arten geben, deren Angehörige sich so sehr voneinander unterscheiden, dass der Artstatus gerechtfertigt ist und sich trotzdem miteinander fortpflanzen, wenn man sie zusammenbringt. Einen einigermaßen sicheren Hinweis auf den Artstatus gibt es nur, wenn sich zwei Arten im gleichen Lebensraum aufhalten, aber dennoch keine gemeinsamen Nachkommen zeugen.
Die Rate der Veränderungen einer Art wird durch eine Kombination vieler Faktoren bestimmt. Die natürliche genetische Drift findet relativ langsam statt, aber Lebensraumveränderungen verlangen entsprechende schnelle Anpassungen. Wettbewerb mit ähnlichen Arten oder Druck durch Räuber kann die Entwicklung einer Art jedoch sehr beschleunigen. Im Laufe der Zeit werden isolierte Populationen so zu echten Arten. Da die Jungen bei den meisten Seepferdchen und ihren Verwandten bereits weit entwickelt sind, wenn sie aus der Brutpflege entlassen werden, ist ihre Verbreitung stärker beschränkt als bei den Fischen, deren planktonische Larven weit verdriftet werden. Einige tropische Seenadeln und Seepferdchen lassen sich jedoch auch als Adulte in lockeren Pflanzenflößen verdriften; diese Arten sind weit verbreitet. Derzeit werden alle Seepferdchen in die Gattung Hippocampus gestellt (Anmerkung der Redaktion DIVEMASTER Nr. 48). Unterschiede zwischen den in tropischen und gemäßigten Gewässern vorkommenden Arten könnten allerdings die Beschreibung von Untergattungen rechtfertigen. Die Seenadeln zeigen eine größere Diversität, so dass verschiedene Gattungen aufgestellt wurden.
DIVEMASTER: In Taucherkreisen werden beobachtete Tiere meist nur mit Kurznamen wie Zackis bezeichnet. Wie kommen Tiere zu Arten zu ihren wissenschaftlichen Namen?
Helmut Debelius: Während bei anderen Tiergruppen wie z.B. den Säugetieren nur selten neue Arten entdeckt werden, erlebt man dies bei den Fischen noch regelmäßig. Die Literatur enthält zahlreiche Synonyme, also verschiedene Namen für die gleiche Art. Oft werden auch falsche Namen benutzt, sogar für die am häufigsten vorkommenden Arten. Nur wenn eine bestimmte Gruppe gründlich untersucht wird, werden derartige Fehler offensichtlich. Viele Probleme entstehen, wenn einander ähnliche Arten mit dem gleichen Namen bezeichnet wurden. Eine populäre Methode der Artbestimmung ist ein Bestimmungsschlüssel, der auf den arttypischen Merkmalen basiert. Da ein solcher Schlüssel nicht alle Arten abdecken und auch eine unbekannte oder neue Art in den Schlüssel passen kann, kommt es leicht zu Fehlbestimmungen.
Wird ein Schlüssel nicht in der geographischen Zone eingesetzt, für die er geschrieben wurde, sind Irrtümer vorprogrammiert. So tauchte beispielsweise das Seepferdchen Hippocampus whitei,das nur an der Ostküste Australiens lebt, in der südafrikanischen Literatur auf, weil das ähnliche H. borboriensis in einen Schlüssel passte. Schlüssel sind jedoch sehr nützlich, um Gattungen zu bestimmen. Auch dort, wo die Diversität auf der Artebene nicht zu groß ist, wie in den gemäßigten Zonen oder im Atlantik, können Schlüssel sehr hilfreich sein. Wenn man aber nicht bereits Experte ist, können Schlüssel eher für Verwirrung sorgen. Um die Seepferdchen und Seenadeln des tropischen Indo-Westpazifik zu bestimmen, sind sie beispielsweise nicht sehr nützlich.
Die Entdeckung einer neuen Art kann auch den für eine andere Art benutzten Namen in Frage stellen, da die neue Art vielleicht besser zu der entsprechenden Originalbeschreibung passt. In vielen Fällen bleibt die Verwirrung bestehen, insbesondere wenn Arten bereits vor langer Zeit benannt wurden. Beschreibungen und Illustrationen vieler damaliger Autoren waren exzellent, die anderer jedoch zu einfach und schlecht, so dass sie auf mehrere Arten zutrafen. Typenmaterial mancher Arten ging verloren oder wurde in Kriegen und Naturkatastrophen zerstört. In einigen Fällen wurden Typusexemplare durch neue ersetzt, die eine andere Art repräsentierten.
Da viele Arten eine beschränkte Verbreitung haben, kann die Typuslokalität eine wichtige Rolle beim Bestimmen ihrer Identität spielen. Verwirrung entsteht immer, wenn die gleiche Art mehrmals von verschiedenen Leuten beschrieben wurde, verschiedene Formen der gleichen Art eigene Namen erhielten oder der gleiche Name für andere Arten benutzt wurde. Der Name der Erstbeschreibung hat Priorität und wird als korrekter wissenschaftlicher Name akzeptiert; er ist das „ältere Synonym“. Alle nachfolgenden werden als „jüngere Synonyme“ bezeichnet. Ein gebräuchlicher Name kann ungültig und ersetzt werden, wenn ein älterer Name gefunden wird. Bei Gattungen können ähnliche Veränderungen auftreten. Arten können außerdem in andere Gattungen gestellt werden, wenn es die Verwandtschaft erfordert.
DIVEMASTER: Das heisst, dass jede neue Art in Verwandtschafts-verhältnisse eingebunden werden muss?
Helmut Debelius: Die heute übliche und verbindliche Klassifikation aller Lebensformen wird bereits über 200 Jahre lang angewendet und geht auf den schwedischen Naturforscher Carl v. Linné zurück. Grundlage dieses Konzeptes ist die Art, die mit einem zweiteiligen latinisierten Namen beschrieben wird. Er besteht aus dem Gattungsnamen, der nahe verwandten Arten gemein ist und dem nachgestellten, die Art kennzeichnenden Namen.
Gattungen werden wiederum in Familien, Familien in Ordnungen, Ordnungen in Klassen und Klassen in Stämmen zusammengefasst. Auf diese Weise werden auch die Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen dargestellt. Die Einordnung der lebenden Wesen in dieses System wird als Taxonomie bezeichnet. Das System ist international verbindlich, so dass es in den meisten Fällen sinnvoll ist, den lateinischen Namen zu benutzen, wenn man eine Art zweifelsfrei bezeichnen will.
DIVEMASTER: Wie war es bei der jetzt nach Dir benannten Art?
Helmut Debelius: Fische bekommen wissenschaftliche Namen, wenn sie ihnen in einer gültigen Erstbeschreibung gegeben werden. Der Beschreiber ist meist auf bestimmte Gruppen spezialisiert. Die Namen sind latinisiert und beziehen sich oft auf ein bestimmtes, typisches Merkmal. Sie können auch den Fangplatz, eine Landmarke oder den Namen einer Person wiedergeben. Artnamen sind binominal, bestehen also aus zwei Teilen, von denen der erste den der Gattung und dieser zusammen mit dem Zweiten den der Art angibt.
Wissenschaftliche Namen werden kursiv geschrieben. Der Gattungsname beginnt mit einem großen Buchstaben, der zweite Teil des Artnamens mit einem kleinen. Beispielsweise ist der wissenschaftliche Name des Ästuar-Seepferdchens Hippocampus kuda, wobei „kuda“ die Art innerhalb der Gattung „Hippocampus“ bestimmt. Andere Seepferdchen, die in die gleiche Gattung gehören, tragen den gleichen Gattungsnamen, so die neu beschriebenen Hippocampus waleananus und Hippocampus debelius. Wissenschaftliche Erstbeschreibungen basieren auf gesammeltem Material der betreffenden Art, aus dem ein Exemplar als Holotypus festgelegt wird und damit die verbindliche Grundlage der Beschreibung darstellt. Eine Beschreibung ist nur gültig, wenn sie in geeigneter Form veröffentlich worden ist. Das Typusmaterial sollte in öffentlichen Museen hinterlegt werden.
Quelle: DIVEMASTER -Das Fachmagazin im Tauchsport Ausgabe Nr. 60 2/2009 Seite 55 - www.divemaster.de [3]
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-256-424.jpg
[2] http://www.divemaster.de/
[3] http://www.divemaster.de